«Jedes Kind ist auf seine Art wertvoll»

Wie erfahren Kinder die Schulzeit, wenn sie anders funktionieren und nicht ins Schema passen? Kathrin Winkelhausen teilt ihre Erfahrungen mit zwei neurodivergenten Töchtern in verschiedenen Schulsettings. Sie wünscht sich, dass jede Person so sein darf, wie sie ist.
Kathrin Winkelhausen lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Biel. Die Schule ist kein einfaches Thema für die Familie, denn die beiden Mädchen denken, fühlen und erleben die Welt anders als die meisten Kolleginnen und Kollegen. Sowohl das 12-jährige wie das 10-jährige Mädchen sind neurodivergent. Kathrin Winkelhausen kann mit den Diagnosen umgehen, mag aber die Schubladisierung nicht, die damit einhergeht, deshalb erscheinen die Namen der Kinder auch nicht hier im Text. «Mein Ideal – wahrscheinlich ist es eine Utopie – ist eine Gesellschaft mit echter gegenseitiger Akzeptanz, das Zusammenleben von Menschen, die so sein können, wie sie sind», sagt sie, die sich selber auch als neurodivers bezeichnet. Die Umwelt passt jedoch häufig nicht gut zu den Menschen, deren Hirne anders verdrahtet sind und deshalb anders funktionieren – dies erfordert viel mehr Anstrengung und Anpassungsleistungen von den Betroffenen.
Blockiert statt gefördert
Kathrin Winkelhausen ist als Tochter einer Schweizer Mutter und eines deutschen Vaters in Deutschland aufgewachsen und hat keine guten Erinnerungen an die eigene Schulzeit. «Ich habe mich immer wieder gefragt, was ich in dieser Institution zu suchen habe», meint sie. In den 90er Jahren hat sich noch niemand für Neurodivergenz interessiert und die Lehrpersonen wussten nicht, wie sie mit Schülerinnen und Schülern umgehen sollten, die nicht ins Schema passten. «Ich fühlte mich blockiert und nicht gefördert», sagt Kathrin Winkelhausen. Folgerichtig hat sie sich gegen die Matura entschieden, um die Schulbank nicht noch länger drücken zu müssen. Sie hat nach einer Erstausbildung die Hotelfachschule gemacht und war in verschiedenen Funktionen tätig. Das tat ihr gut, weil eine klare Struktur vorgegeben war und sie einen Lehrmeister hatte, der ihr Potenzial erkannte und förderte. In der Zwischenzeit hatte sie auch gelernt, für sich selber einzustehen. Später schloss sie einen Master in Gesundheitsförderung und Prävention ab und ist nun als selbständige Organisationsentwicklerin und Coach tätig. «Ich kann im Umgang mit unterschiedlichen Menschen, in Drehscheibenfunktionen und als Externe und Selbständige mit ausgeprägter Analysefähigkeit mein Potenzial entfalten», beschreibt sie ihre aktuelle berufliche Situation.
Es geht nicht an, zurück zur Klassifizierung von Menschen zu gehen, es braucht die Fähigkeiten aller Menschen, um die komplexen Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen.
Die beiden Töchter haben sie und ihr Mann damals intuitiv nicht in die Schule geschickt, sondern von Anfang an zuhause unterrichtet, «wir wollten sie nicht in ein System stecken, das trotz vielen Bemühungen und Verbesserungen nicht ideal für neurodiverse Menschen ist». Das ging gut bis zur Pandemie, denn «durch die Kontaktverbote kam der Austausch mit anderen Kindern zu kurz», wie Kathrin Winkelhausen erläutert. Die beiden Mädchen besuchten daraufhin eine Privatschule, die sich allerdings nicht an den Lehrplan hielt und in der sich vor allem die Ältere unwohl fühlte. Deshalb wechselte diese nach einem Jahr an eine öffentliche Schule mit einer jungen Lehrerin, die sehr engagiert war und ihr half, die Lücken im Stoff des letzten Jahres aufzuholen. Die ältere Tochter ist laut ihrer Mutter in der Klasse gut integriert und ist nun in der Oberstufe. Dank einem Nachteilsausgleich ist der grosse Druck weg und sie kann sich viel besser auf die Inhalte konzentrieren und ihre ausgeprägten sozialen Stärken einbringen. «Sie ist sehr kreativ, engagiert, gut organisiert, und es gelingt ihr, Theorie und Praxis zu verbinden», sagt Kathrin Winkelhausen. Deshalb ist eine Lehre naheliegend, sie interessiert sich sehr fürs Schreinern.
Nicht alle müssen das Gleiche lernen
Die jüngere Tochter folgte der Schwester von der Privatschule an die öffentliche Schule, wo sie auf erfahrene und engagierte Lehrpersonen traf, die nach dem Churer Modell arbeiten, also ganzheitlich tätig sind. Das ging gut bis letzten Herbst, als die ständige Anstrengung, sich anzupassen, dem Mädchen zu viel wurde. Deshalb wird sie derzeit in einer Tagesklinik unterrichtet. Sie lernt, wie sie ihre Emotionen regulieren kann und wann es sinnvoll ist, ihre Maske aufzusetzen oder fallenzulassen. Zudem bilden die Eltern zusammen mit einer Hundehalterschule einen Assistenzhund für sie aus, der ihr zu mehr Fokus und Sicherheit verhelfen soll. «Trotzdem wird sie nicht in die Regelschule zurückkehren können, denn die vielen Kinder, der Lärm und die Ansprüche überfordern sie», führt ihre Mutter aus. Sie wird ihre Schullaufbahn an einer besonderen Volksschule für normal- und hochbegabte Kinder und Jugendliche im Autismus-Spektrum fortsetzen und dort ihre ausgeprägten intellektuellen Fähigkeiten weiterentwickeln können. Dank Hobbys wie der Pfadi kann sie Kontakte zu Kindern, die ihr wichtig sind, weiterhin pflegen.
Es geht darum, den Vorstellungsraum zu öffnen und die Schule neu zu denken – und zwar von den Beteiligten.
Wie steht Kathrin Winkelhausen nach ihren vielfältigen Erfahrungen zum gegenwärtigen Schweizer Schulsystem? «Ich finde, dass die Schule nicht wirklich aufs Leben vorbereitet, die Theorie hat ja häufig nicht viel mit der Realität zu tun», sagt sie. «Der Lehrplan ist aber wirklich gut und verlangt nicht mehr, dass alle das Gleiche lernen müssen. Auch die Ausbildung für die Lehrpersonen ist hochwertig, aber für den anspruchsvollen Beruf gibt es zu wenig Anerkennung und zu wenig Lohn», stellt Winkelhausen fest. Der Lehrermangel verringere die Qualität und erhöhe die Belastung, und viele junge Lehrpersonen verliessen den Beruf, weil sie Erziehungsarbeit leisten müssen, was eigentlich Aufgabe der Eltern wäre. «Die Zunahme von Mobbing führe ich auch auf das Elternhaus zurück, das keine Lösungswege aufzeigt, um Konflikte zu beheben, und gegenseitigen Respekt zu wenig vorlebt», sagt Kathrin Winkelhausen. Gerade im Raum Biel leben zudem viele Menschen aus sehr unterschiedlichen Kulturen zusammen, da gebe es oft einen Crash der Kulturen und Erwartungen. «Auch für die vielen ausländischen und anderssprachigen Kinder müsste Inklusion anders gedacht werden, nicht nur für diejenigen, die anders ticken», so Winkelhausen. Es geht ihrer Meinung nach darum, die Regelschulen und Sonderschulen näher zusammenzubringen, dazu brauche es aber andere Rahmenbedingungen und mehr Ressourcen.
Unterschiedliche Fähigkeiten für aktuelle Herausforderungen
Kathrin Winkelhausen bemängelt, dass Lehrerinnen und Lehrer nach wie vor nicht angezweifelt werden, es gebe kein Kontrollsystem für die Qualität des Unterrichts. «Das ist einer der Gründe, weshalb Homeschooling solchen Zulauf hat, die Kinder können nicht wählen und sind den Lehrpersonen ausgeliefert», sagt sie. «Es geht aber auch darum, den Vorstellungsraum zu öffnen und die Schule neu zu denken – und zwar nicht von Erziehungswissenschaftlern, sondern von den Beteiligten, den Schülerinnen und den Lehrern», so Winkelhausen. Ein Thema, das es zu überdenken gelte, sei etwa das Notensystem, das doch nicht die Fähigkeiten einer Person abbilde. Oder der fixe Betreuungsschlüssel der Lehr- und Unterstützungspersonen pro Schule statt nach dem tatsächlichen Bedarf. Sie sieht aber auch die Eltern und die ganze Gesellschaft in der Pflicht, denn zu viele Aufgaben würden an die Lehrpersonen delegiert. Die inklusive Schule steht nach Ansicht von Kathrin Winkelhausen zu Unrecht in der Kritik – obwohl auch sie findet, dass unter den aktuellen Vorzeichen einiges nicht funktioniert. Es gehe aber nicht an, zurück zur Klassifizierung von Menschen zu gehen, es brauche vielmehr die unterschiedlichen Fähigkeiten von allen Menschen, um die komplexen Herausforderungen unseres Planeten und unserer Zeit zu bewältigen. «Jedes Kind ist auf seine Art wertvoll – da wären wir wieder beim Wunsch, dass jede Person so sein darf, wie sie ist», sagt Kathrin Winkelhausen. Die Problematik der gesellschaftlichen Normen und der Normalität würde sich grösstenteils erübrigen.
Wertschätzung und Wertschöpfung sind entscheidende Aspekte für Kathrin Winkelhausen, auch in ihrer Arbeit. Sie sei häufig konfrontiert mit Menschen, die Mühe haben, für sich zu sorgen – gerade neurodiverse Personen landen deshalb häufig im Burnout oder zeigen andere Formen der Überlastung. Je mehr Menschen ihr Potenzial entfalten können, desto mehr Menschen können davon profitieren – oder in Kathrin Winkelhausens Worten: «Was wir für neurodivergente und andere Menschen mit speziellen Bedürfnissen tun, ist immer gut für uns alle.»