LGBTIQ+ | Um die Andersartigkeit zu respektieren, muss man sie kennen
Seit Anfang Jahr bietet der Genfer Verband der Betreuungseinrichtungen für Senior:innen (Fegems) eine neuartige Schulung zu Sozialkompetenzen und beruflichen Haltungen an. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der inklusiven Betreuung von Menschen im Alter, um LGBTIQ+-Senior:innen ein Coming-out zu ermöglichen und einen Existenzraum zu eröffnen.
Der Frühling hat gerade erst begonnen. Die Luft ist noch kühl, zaghafte Sonnenstrahlen wagen sich durch die Wolkendecke. Fatima Da Cruz und Alicia Torices treffen sich an diesem Morgen vor dem Sitz der Fegems. Der Genfer Branchenverband vereint rund 50 Betreuungseinrichtungen für Senior:innen, Alters- und Pflegeheime (APH) und Tagesheime. Die beiden Frauen arbeiten als Pflegefachkräfte im APH Les Pervenches. Gemeinsam mit etwa 15 Kolleg:innen aus unterschiedlichen Bereichen und Einrichtungen nehmen sie erstmals an einem neuen zweitägigen Schulungsangebot der Fegems teil: «Zentrale Sozialkompetenzen im Altersund Pflegeheim».
«Sozialkompetenzen»? Der Titel der Schulung macht die beiden Frauen neugierig. Die Aufforderung, einen privatisierten Bus der Genfer Verkehrsbetriebe zu besteigen, noch mehr. Mit an Bord sind drei Partnersenior:innen sowie das Schulungsteam. Am ersten Schulungstag fährt der Bus den ganzen Morgen lang durch die Strassen von Genf und einigen umliegenden Gemeinden und macht dabei mehrmals Halt. Bei jedem Halt erzählen die Partnersenior:innen den Teilnehmenden in wenigen Minuten Fragmente aus ihrem Leben, die mit dem jeweiligen Ort zu tun haben.
Menschen geben Einblick in ihre Andersartigkeit
Im Laufe der Fahrt geben die Partnersenior:innen mit ihren Erzählungen Stück für Stück Einblick in ihre Diversität, intimere Seiten ihrer Geschichte, ihren Migrationshintergrund, ihre Religionszugehörigkeit oder ihre sexuelle Orientierung. So auch Patrice, um die siebzig, der in der Industrie gearbeitet hat. Er hat sich für die Haltestelle Place de Neuve zwischen dem Parc des Bastions und dem Grand Théâtre entschieden. Hier erzählt er von seinen Treffen mit Männern im Park und seiner Liebesgeschichte mit einem Balletttänzer am Grand Théâtre. «Eines Tages wohne ich vielleicht auch in einem APH», erklärt Patrice. «Durch die Teilnahme an diesem Kurs möchte ich zur Bewusstseinsbildung beitragen und für mehr Inklusion und Offenheit sorgen.»
Die beiden Pflegefachfrauen sind bewegt von den Erzählungen. Ihnen wird bewusst, dass sie in wenigen Stunden mehr über das Leben der Partnersenior:innen erfahren haben als über die Bewohnenden, um die sie sich tagtäglich kümmern. «Unser Problem bei der Arbeit ist die Zeit. Wir haben keine Zeit, also hören wir den Menschen nicht zu. Dabei hat jede und jeder von ihnen eine Geschichte, und wir verpassen sie», sagt Alicia Torices.
Hinterfragen von Werten und Überzeugungen
Unter dem Stichwort «Sozialkompetenzen» lädt das Schulungsangebot zum Nachdenken über die beruflichen Haltungen bei der Aufnahme und Betreuung vulnerabler Menschen im Alter ein. Dabei geht es unter anderem um Zugehörigkeit und Inklusion. «Eine Schulung über fachliche Kompetenzen ist einfacher als über Sozialkompetenzen», bemerkt Katia Peccoud, Leiterin des Bereichs Weiterbildung bei der Fegems. Sie hat das neue Angebot initiiert. «Das Hinterfragen der eigenen beruflichen Haltung bedeutet nämlich auch das Hinterfragen der eigenen Werte und Überzeugungen.»
Am ersten Kurstag geht es konkret darum, sich der Andersartigkeit von LGBTIQ+-Senior:innen bewusst zu werden. Die Erlebnisberichte dienen als sanfter Einstieg in diesen Prozess. Bevor die Teilnehmer:innen in den Bus steigen, erhalten sie ein persönliches «Reisetagebuch». Darin können sie ihre Gedanken, Gefühle und Fragen festhalten, während sie den Erzählungen der Partnersenior:innen zuhören.
Das Tagebuch enthält 40 Aussagen in Verbindung mit emotionaler und sexueller Vielfalt und Geschlechtsidentität. Die Teilnehmenden können ihnen zustimmen oder sie ablehnen. Dabei geht es darum, die eigenen Überzeugungen, Vorurteile und Haltungen zu hinterfragen. Zum Beispiel: «Ich fühle mich wohl mit LGBT-Personen, so lange sie diskret sind.» «Ich würde nicht gern erfahren, dass meine Ärztin oder mein Arzt lesbisch oder schwul ist.» «Ich wäre überrascht, eine lesbische Muslimin mit Kopftuch zu treffen.» «Ich rechne nicht damit, dass ein Mann im Rollstuhl schwul ist.» Es steht jeder und jedem frei, auf diese Fragen zu antworten.
Eine Generation, die sich oft verstellen musste
Alicia Torices berichtet, dass die Schulung in ihr etwas ausgelöst hat: «Jeden Tag helfe ich Männern und Frauen, ohne auch nur daran zu denken, dass sie eine andere Sexualität haben könnten als ich.» Vielen Fachkräften in Betreuungsstrukturen geht es ähnlich. Sie wissen oft gar nicht, ob unter den Bewohnenden LGBTIQ+-Senior:innen sind. «Diese fehlende Sichtbarkeit bedeutet nicht, dass es diese Personen nicht gibt, nur weil sie sich nicht offen zeigen», betont Marjorie Horta, Beauftragte des Projekts LGBTIQ+-Senior:innen des Genfer Vereins 360, der am ersten Schulungstag mitwirkt.
Sie weist darauf hin, dass LGBT-Senior:innen einer Generation angehören, die sich häufig verstellen musste und Strafen, Heimlichkeit und Stigmatisierung erfahren hat. «Wie findet ein schwules Paar seinen Platz im APH? Wie kann eine lesbische Person bei Tisch oder in einer Gesprächsgruppe von sich erzählen? Kann man eine Transperson mit dem Geschlecht ansprechen, das sie wünscht?», fragt Marjorie Horta.
Aus dem eigenen Leben zu erzählen, bedeutet, sich zu offenbaren – mit der Angst vor einem Urteil und vor Ablehnung durch das Heimpersonal oder durch andere Bewohnende. Daher sagen die meisten LGBTIQ+-Senior:innen im Heim nichts. «Und nichts zu sagen, bedeutet, erneut unsichtbar zu sein.»
Deshalb bildet Marjorie Horta Fachkräfte in der inklusiven Betreuung von Menschen im Alter aus, um die Unsichtbarkeit der LGBTIQ+-Senior:innen zu durchbrechen und ihnen einen Existenzraum zu eröffnen.
Diese Unsichtbarkeit verursacht Stress – sogenannten Minderheitenstress. Er entsteht, weil die Betroffenen einer stigmatisierten Minderheit angehören. Dieser Stress hängt mit dem Verbergen der eigenen Persönlichkeit, mit verinnerlichter Homo- oder Transphobie und mit dem Coming-out zusammen. Die Unsichtbarkeit hat darüber hinaus negative Folgen für die Gesundheit – sie kann zu Isolation, Depression, Sucht oder chronischen Erkrankungen führen.
Inklusive Sprache und offene Kommunikation
Marjorie Horta befasst sich mit der Terminologie und der Unterscheidung zwischen Geschlecht, Gender und Sexualität sowie mit dem Verständnis für die Lebensrealität und die Bedürfnisse von LGBT-Senior:innen. Sie macht darauf aufmerksam, wie sich Haltungen oder Handlungen auf eine Person auswirken können, die zu Unrecht für heterosexuell oder cis gehalten wird. Ihre Aussagen untermauert sie mit Alltagssituationen aus der Praxis, um die Bewusstseinsbildung zu fördern. Sie lädt zu einer offenen Kommunikation und inklusiven Willkommensgesten ein, damit sich die Person wohlfühlt und sich selbst sein kann. Das bedeutet auch, sich mit Gegenständen und Fotos zu umgeben, die ihre sexuelle Orientierung zeigen, wenn die Person das möchte. «Eine solche Öffnung gegenüber anderen geschieht vor allem über die Wortwahl – man muss sie erweitern und mit neutralen Begriffen inklusiver gestalten», erklärt Marjorie Horta. Das beginnt bei der Formulierung der Fragen in den verschiedenen Verwaltungsformularen der Einrichtungen.
Um diese Arbeit intensiv zu begleiten und die Inklusion von Andersartigkeit zu fördern, werden am zweiten Schulungstag konkrete Werkzeuge erarbeitet. Dabei geht es um Empathie, persönliche oder institutionelle Werte und eine proaktive Herangehensweise und Kommunikation. «Es handelt sich um einen Werkzeugkasten zur Selbstentwicklung, um zu lernen, wie man dem Mitmenschen Raum gibt, ihm die Wahl lässt und es ihm ermöglicht, sich selbst zu sein. Dafür gibt es bislang keinen Kurs», so Katia Peccoud.
Pflegepersonal ist nicht genügend geschult Marjorie Horta stimmt ihr zu und verweist auf eine aktuelle Studie aus verschiedenen französischsprachigen Ländern. Sie zeigt, dass Pflegefachkräfte in diesem Bereich nur unzureichend geschult sind. Für die Einführung spezialisierter Schulungen sieht sie zwei Hindernisse. Das erste ist wie bereits erwähnt die Unsichtbarkeit von LGBTIQ+-Senior:innen: Da sich diese Personen verstellen, geht die Einrichtung davon aus, dass es bei ihr gar keine gibt und daher auch keine Schulung erforderlich ist. Das zweite Hindernis lässt sich in einem häufig gehörten Satz zusammenfassen, der eine Auseinandersetzung mit der eigenen Haltung erspart: «Bei uns respektieren und akzeptieren wir alle gleichermassen.» Die Projektverantwortliche bezweifelt den guten Willen der Pflegeteams nicht. «Das reicht aber nicht. Um Diversität zu respektieren, muss man sie kennen.» Sie wird also weiter über diese unbeachteten und verkannten Menschen sprechen, um einen Existenzraum für sie zu schaffen und den Reflexionsprozess über ihre Inklusion anzuregen.