LGBTIQ+ | «Unsichtbarkeit ist eine Form der Diskriminierung»

21.12.2025 Elisabeth Seifert

Menschen, die sich nicht gemäss den gängigen Geschlechtermustern definieren, lösen Verunsicherung aus. Um Verständnis zu entwickeln, brauche es Offenheit, Neugier und Wissen, sagt Christina Caprez*. Sie ist Soziologin und Autorin eines Buchs mit Porträts queerer Jugendlicher und bietet auch Weiterbildungen zum Thema «sexuelle und geschlechtliche Vielfalt» an.

Frau Caprez, die queere Community differenziert sich immer weiter aus. Zu LGBTQIA+ kommen laufend neue Buchstaben dazu – wie erklären Sie sich als Soziologin dieses Phänomen?

Für immer mehr Menschen, besonders auch für Jugendliche, ist Queerness ein Thema. Ich sehe das als Folge einer jahrzehntelangen Entwicklung in der Umsetzung von Menschenrechten. Wir Frauen zum Beispiel erlangten 1971 endlich das Stimmrecht. Zehn Jahre später wurde die Gleichberechtigung in der Bundesverfassung garantiert, aber erst 1991 mit dem Gleichstellungsgesetz umgesetzt. Parallel dazu kämpften zuerst Schwule in der Öffentlichkeit um ihre Anerkennung, es folgte in den 80er- und 90er-Jahren eine lesbisch-feministische Bewegung. Und heute haben wir es mit einer jüngeren queeren Bewegung zu tun, die für die Rechte aller Geschlechter kämpft, einschliesslich Menschen, die sich weder als Frauen noch als Männer identifizieren.
 

Diese jüngere queere Bewegung ist für Sie also nicht einfach ein Trend, sondern Ausdruck unserer modernen Gesellschaften?

Manche Leute äussern die Vermutung, dass es sich gerade bei dieser Bewegung um eine Modeerscheinung und damit etwas Vorübergehendes handelt. Das kann ich so nicht bestätigen. Wir sehen über die letzten Jahre hinweg einen Anstieg gerade bei jungen Menschen, die sich als nicht mehr ausschliesslich heterosexuell bezeichnen. So geben etwa im Kanton Zürich in der repräsentativen Jugendstudie 26 Prozent der weiblichen Neuntklässlerinnen an, dass sie nicht oder nicht ausschliesslich heterosexuell seien. Interessant ist ein Vergleich mit Linkshändigkeit: Früher waren Linkshänder:innen stigmatisiert, und so gaben in Umfragen nur wenige Menschen an, linkshändig zu sein. Erst seit ein paar Jahrzehnten stagniert die Anzahl bei rund 12 Prozent.
 

Die Enttabuisierung führt dazu, dass sich Menschen zu anderen als den gängigen Geschlechtsidentitäten bekennen?

Erst wenn die menschliche Vielfalt komplett enttabuisiert sein wird und die Gesellschaft Lebensweisen, die nicht cis oder nicht hetero sind, anerkennt, werden wir wissen, wie hoch ihr Anteil in der Bevölkerung tatsächlich ist. Das können wir heute noch gar nicht sagen. Wir haben uns erst auf den Weg gemacht. Wichtige Etappen sind die Ehe für alle oder der vereinfachte Geschlechtseintrag für trans Menschen.
 

Trotz solchen Öffnungsschritten gibt es aber noch immer eine starke Diskriminierung.

Die Diskriminierung ist sehr präsent, das habe ich gerade auch bei meinen Interviews mit queeren Jugendlichen gesehen. Am meisten schockiert hat mich die Anzahl von Kindern und Jugendlichen, die gemobbt werden, und zwar massiv. Mobbing ist allgemein ein verbreitetes Thema, bei queeren Jugendlichen aber ist es überdurchschnittlich. Gerade Transidentität ist nochmals stigmatisierter als eine schwule, lesbische oder bisexuelle Orientierung. Unsere Gesellschaft ist noch lange nicht so offen und enttabuisiert, wie wir uns dies wünschen würden.
 

Auch wenn queere Identitäten zunehmend präsent sind, handelt es sich doch um eine gesellschaftliche Minderheit, ganz besonders bei Menschen, die sich als transgender oder non-binär identifizieren. Warum hat das Thema in der Öffentlichkeit dennoch eine so hohe Präsenz?

Das hat auch viel mit Reaktionen aus rechten Kreisen zu tun. Die Stadt Zürich hat den Genderstern im Sinn einer geschlechtergerechten Sprache eingeführt. Ein Verwaltungsakt, genauso wie man 20 Jahre zuvor Frauen überall in allen Dokumenten mit aufgeführt hat. Die SVP hat den Kampf dagegen zu ihrem Kampagnenziel erklärt.
 

Eine solche Reaktion ist vor allem Ausdruck von Verunsicherung?

Wenn man damit aufgewachsen ist, dass das Geschlecht etwas ist, das man an äusseren Merkmalen ablesen kann, und dass sich daraus entsprechende Interessen und Geschlechterrollen in der Familie ableiten lassen, dann kann es sehr verunsichernd sein, wenn jemand diese vermeintliche Gewissheit infrage stellt und sagt: Ich bin weder Frau noch Mann. Dass es da eine Gegenbewegung gibt, kann ich nachvollziehen und soziologisch erklären, auch wenn ich es natürlich nicht schön finde.
 

Wird die Gesellschaft damit umgehen lernen?

Ich bin sehr ambivalent. Lange Zeit sah ich Gegenreaktionen als eine Art letztes Aufbäumen des Patriarchats. Aber aktuell beobachte ich eine antifeministische Bewegung, und in verschiedenen Ländern setzen sich autokratische Regierungen durch. Diese Kräfte sind mittlerweile sehr stark. Es bereitet mir Sorge, wie in den USA die Rechte von trans Menschen abgebaut werden. Auch in der Schweiz gibt es ja Versuche in diese Richtung.
 

Was ist zu tun, damit wir gesellschaftliche Errungenschaften nicht wieder verlieren?

Die Verunsicherung ist menschlich. Die Frage ist einfach, wie man damit umgeht. Weist man diese Entwicklung als bedrohlichen Trend zurück, oder sagt man sich: «Das ist zwar neu für mich, aber ich bin offen, mich damit zu beschäftigen?» Auch auf anderen Gebieten ist für uns vieles neu, wir können und dürfen immer wieder dazulernen. Diese offene Haltung wünsche ich mir, und ich beobachte sie durchaus auch.

In Ihrem Buch geht es um queere Jugendliche. Ist gerade die neuere queere Bewegung vor allem auf junge Menschen beschränkt? Das ist sehr unterschiedlich. Ältere Menschen sind noch mehr damit aufgewachsen, wie ein Mädchen oder eine Junge zu sein hat, und haben so eine noch grössere Distanz zu dieser neuen Bewegung. Andererseits erlebe ich gerade auch von älteren Menschen berührende Reaktionen auf mein Buch. Ein Mann im Grossvateralter, der jetzt mit seiner Frau seine Enkel betreut, fragte mich, ob ich nicht ein Buch über queere Alte schreiben möchte – er sei nämlich so einer.
 

Wie meinte er das?

Er hat sich ein Leben lang als Mann und hetero einsortiert, sich damit aber nie so richtig wohlgefühlt, weil er schon als Bub untypisch war. In meinem Buch konnte er sich mit Benicio identifizieren, der sich als non-binär versteht. Benicio ist mit männlichen Geschlechtsmerkmalen auf die Welt gekommen und will das auch gar nicht ändern, versteht sich aber nicht als Mann. Bei dem älteren Mann, der mir geschrieben hat, ist das ganz ähnlich.
 

Durch die queere Bewegung ist diesem älteren Mann überhaupt erst bewusst geworden, dass es so etwas wie eine non-binäre Geschlechtsidentität geben kann?

Für ihn ist diese neue queere Bewegung eine Chance, jetzt eine Art Coming-out zu haben, als non-binärer Mensch. Diese Erfahrung zeigt auch: Wenn wir keine Sprache und keine Begriffe haben, dann können wir oft gar nicht über unsere Gefühle sprechen. Es braucht auch Figuren, die eine entsprechende Identität leben. Wir haben in der Deutschschweiz etwa Kim de l’Horizon und Nemo, die als non-binäre Menschen in der Öffentlichkeit präsent sind.
 

Es geht also darum, Sichtbarkeit zu schaffen?

Unsichtbarkeit oder Schweigen sind eine Form der Diskriminierung, die gerade für Jugendliche sehr schwierig ist. Es verhindert eine gute Entwicklung, wenn die Eltern und die Schule diese Themen nicht oder kaum ansprechen. Kinder fühlen sich falsch, wenn sie in sich etwas spüren, dafür aber keine Entsprechung in ihrer Lebenswelt finden. Das ist sehr existenziell und auch der Grund, weshalb sich trans Menschen früher erst sehr spät geoutet haben. Nur wer Worte für die eigenen Gefühle hat, kann sie auch akzeptieren, mitteilen und leben.

Was sollten Schulen und Eltern tun? Sie können in der Sprache sowie über Bücher, Filme und Lehrmittel die Vielfalt geschlechtlicher Identitäten und sexueller Orientierungen erfahrbar machen. In den meisten Kinderbüchern ist heute die klassische Rollenverteilung von Frauen und Männern immer noch eine Selbstverständlichkeit, ganz zu schweigen von trans oder non-binären, schwulen oder lesbischen Lebensweisen. Im Unterschied zu früher haben Kinder und Jugendliche immerhin die Möglichkeit, sich über Social Media zu informieren und Vorbilder zu finden. Es ist für uns Erwachsene aber ein Armutszeugnis, wenn Jugendliche dafür auf Social Media angewiesen sind.
 

Sie haben nicht nur ein Buch über queere Jugendliche geschrieben, sondern führen zwecks Sensibilisierung auch Workshops an Schulen durch.

Die Idee zum Buch hatte ich, weil ich im Verein ABQ aktiv bin. Wir vermitteln an Schulen das queere ABC. In den Workshops mit Schulklassen geht es um Identität, Liebe und Orientierung. Wir erzählen unsere eigenen Geschichten: Ich zum Beispiel erzähle von meiner Diskriminierung als Mädchen in der Schule und dass ich erst spät gemerkt habe, dass ich nicht nur auf Buben stehe. Wir möchten den Kindern und Jugendlichen auf diese Weise die Vielfalt möglicher Identitäten zeigen. Das Buch habe ich für Jugendliche, aber auch für Lehrpersonen geschrieben, die nicht wissen, wie sie mit dem Thema umgehen sollen. Und mittlerweile biete ich auch Weiterbildungen für Fachpersonen auf der Basis des Buchs «Queer Kids» an, etwa für Schulleiter:innen, Lehrpersonen oder Psycholog:innen.
 

Besonders umstritten sind in der öffentlichen Debatte Hormonbehandlungen und Operationen bei jungen Menschen. Wie stehen Sie dazu?

Ich kann die Aufregung soziologisch nachvollziehen, aber inhaltlich teile ich sie nicht. Die Zahl von Minderjährigen, die solche Behandlungen bekommen, ist sehr klein, und jede Behandlung wird von Fachleuten sorgfältig geprüft und begleitet. Wenn man von Behandlungen bei Minderjährigen redet, dann handelt es sich meist um Pubertätsblocker, mit denen sich die Pubertät um bis zu zwei Jahre hinauszögern lässt. Die Kinder gewinnen damit Zeit, herauszufinden, wer sie wirklich sind.
 

Bleiben die Jugendlichen einer bestimmten Identität treu – oder versuchen sie es mit unterschiedlichen Identitäten?

Die Adoleszenz ist eine Lebensphase, in der es darum geht, sich in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen zu finden – etwa in Bezug auf die Berufswahl, die Entwicklung eigener Werte oder auch die sexuelle Orientierung. Junge Leute probieren sich aus, das gehört dazu. Erwachsene haben die Aufgabe, die Kinder auf diesem Weg zu begleiten. Junge Menschen sind dabei auf ihre Offenheit angewiesen. Es ist wichtig, die Kinder ernst zu nehmen und nicht, weil einem das Thema selber fremd ist, mit Skepsis zu reagieren. Entwicklung findet übrigens ein Leben lang statt: Die sexuelle Orientierung und/oder die Geschlechtsidentität können sich weiterentwickeln – auch wenn man das nicht willentlich beeinflussen kann.
 

Studien zeigen, dass sich neurodivergente Menschen häufiger nicht mit dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren als der Durchschnitt der Bevölkerung. Wie erklärt sich das?

Es gibt dazu noch keine erhärteten Erkenntnisse. Es ist aber bekannt, dass für neurodivergente, vor allem autistische Menschen, soziale Normen fremd sind. Da ist es nur plausibel, wenn für diese Gruppe auch geschlechtliche Normen nicht nachvollziehbar sind. Sam, eine autistische, non-binäre Person mit ADHS, die ich in meinem Buch porträtiere, beschreibt die Fremdheit gegenüber Geschlechterrollen sehr plastisch: Warum soll man Frauen anders behandeln als Männer oder Buben anders als Mädchen? Das ist für Sam unverständlich.
 

Menschen mit Behinderungen werden in ihrer Sexualität oft grundsätzlich nicht ernst genommen. Was bedeutet das für queere Menschen mit Behinderungen?

Für Menschen mit Behinderung ist es noch schwieriger, ernst genommen zu werden, wenn sie queer sind. Dabei haben auch Menschen mit Behinderung eine tiefe innere Gewissheit, welchem Geschlecht sie angehören und wen sie begehren. Es gibt verschiedene queere Menschen mit Behinderungen, die sich zu dem Thema äussern und von denen ich schon viel gelernt habe – wie etwa Eddie Ramirez, Nina Mühlemann, Chris Heer und Lila Plakolli in der Schweiz oder Luisa L’Audace in Deutschland. Es lohnt sich, ihnen zuzuhören.

 


Unser Gesprächspartnerin

Christina Caprez, geboren 1977, Soziologin und Historikerin, langjährige Redaktorin bei Radio SRF 2 Kultur, ist heute freie Journalistin, Moderatorin und Autorin. Sie realisiert Radio-, Film und Buchprojekte sowie Moderationen im Bereich Familie, Migration, Religion, Geschlecht und Sexualität. Christina Caprez hat eine Tochter in Co-Elternschaft mit einem Männerpaar und lebt bei Zürich. Das Buch «Queer Kids. 15 Porträts» ist 2024 im Limmat-Verlag erschienen.

Veransltaltung - Neurodivergenz und Geschlechtsidentität

Am 13. März moderiert Christina Caprez eine Veranstaltung in Zürich mit dem Thema: «Wer bin ich? Neurodivergenz und Geschlechtsidentität im Kindes- und Jugendalter».

Infos und Anmeldung

 


 

Begriffe der queeren Sprache

  • Queer: Ein Begriff, der sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten beschreibt, die nicht heterosexuell oder cisgender sind, zum Beispiel lesbisch, schwul, bisexuell und transgender. Der Begriff wird oft als ein Oberbegriff für nicht-heteronormative Identitäten gebraucht.
  • LGBTQIA+: Ein Kurzwort, das zusammengesetzt ist aus den Anfangsbuchstaben der englischen Wörter Lesbian, Gay, Bisexual, Transsexual/ Transgender, Queer, Intersexual und Asexual. Das + repräsentiert Mitglieder der Community, die sich einer anderen als im Kurzwort enthaltenen sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität zuordnen.
  • Geschlechtliche Identität: Der Ausdruck beschreibt, wie sich eine Person selber wahrnimmt. Dabei geht es auch um die Frage, ob sich ein Mensch mit dem ihm zugewiesenen Geschlecht identifiziert oder nicht. Zentrale Identitätsbegriffe sind: non-binär (= fühlt sich keinem Geschlecht zugeordnet), transgeschlechtlich (= fühlt sich nicht oder nicht nur dem angeborenen Geschlecht zugeordnet), intergeschlechtlich (= hat weibliche und männliche Geschlechtsmerkmale), cis (= fühlt sich dem angeborenen Geschlecht zugeordnet).
  • Sexuelle Orientierung: Der Ausdruck beschreibt, zu welchen Personen und Geschlechtern sich jemand (nicht) hingezogen fühlt. Sexuelle Orientierungen sind zum Beispiel heterosexuell, homosexuell, lesbisch, bisexuell und asexuell.
  • Co-Elternschaft: Eine Form der Elternschaft, bei der ein oder mehrere Kinder von zwei oder mehr Erwachsenen gemeinsam aufgezogen werden, ohne dass zwischen diesen Personen zwangsläufig eine romantische Beziehung besteht.
  • Regenbogenfamilie: Das ist eine Familie, in der mindestens ein Elternteil lesbisch, schwul, bisexuell, transgeschlechtlich oder intergeschlechtlich ist. Der Begriff leitet sich von der Regenbogenflagge ab, einem Symbol für die LGBTQ+-Community.

 


 

Foto: Ayse Yavas