MENSCHENRECHTE | «Wir Mitarbeitende sind im Daheim der Bewohnenden zu Gast»

In vielen Alters- und Pflegeheimen leben Menschen mit Demenz in einem geschlossenen Wohnbereich. Im Gesundheitszentrum für das Alter Bachwiesen im Zürcher Quartier Albisrieden bewegen sich die Demenzerkrankten hingegen frei und haben Zugang zu allen Räumen und zum gesamten Aussenbereich. Wie dieses Konzept des offenen Hauses im Alltag funktioniert, erläutern der Demenzexperte Daniel Zimmermann und Snezana Celikic, die Leiterin des Pflegedienstes.
Das Gesundheitszentrum für das Alter Bachwiesen liegt mitten im Zürcher Quartier Albisrieden. Von der Tramstation her dauert es nur einige Minuten durch ein Wohnquartier hindurch und an einem Bächlein entlang bis ins Hauptgebäude. Dass es sich um eine Institution für ältere Menschen handelt, ist nicht direkt sichtbar, genauso gut könnte es sich um eines der vielen Mehrfamilienhäuser handeln, von denen es umgeben ist. Im Parterre befindet sich ein Restaurant, das auch von den Anwohnerinnen und Anwohnern rundherum geschätzt wird, nicht zuletzt von den Kindern. Auf der Terrasse davor gibt es Sitzgelegenheiten, einen Garten und einen Fischteich, der alte wie junge Menschen anzieht. «Diese Öffnung für alle Quartierbewohnenden ist beabsichtigt», erläutert Daniel Zimmermann, der am Gesundheitszentrum als Demenzexperte tätig ist.
Offenes Haus mit Bewegungsfreiheit
Das Gesundheitszentrum Bachwiesen zeichnet sich aus durch das Konzept des offenen Hauses. Das Ziel davon ist, dass auch Menschen mit Demenz möglichst viel Autonomie und «Normalität» erleben dürfen. Denn: «Der Anteil von Demenzerkrankten in unserer und anderen Institutionen nimmt zu, da wir alle älter werden und die Menschen dank ambulanter Hilfe länger in ihrem vertrauten Zuhause bleiben können», so Daniel Zimmermann. Das Konzept des offenen Hauses orientiert sich an den nationalen DemCare- Empfehlungen, die ab 2013 in den Gesundheitszentren für das Alter der Stadt Zürich entwickelt wurden. Die Broschüre «Begleitung, Betreuung, Pflege und Begleitung von Personen mit Demenz – Empfehlungen für Langzeitinstitutionen» wurde im Juni 2020 im Rahmen der Nationalen Demenzstrategie 2014–2019 angepasst und bildet sozusagen die Idealbegleitung von Menschen mit Demenz ab. Im Gesundheitszentrum für das Alter Bachwiesen gibt es unter anderem drei Wohnbereiche à je fünfzehn Personen mit Demenz. Ein ganz wesentlicher Faktor des offenen Hauses ist der Bewegungsspielraum, der bei Demenzerkrankten meistens durch einen geschlossenen Wohnbereich stark eingeschränkt ist. Im Gesundheitszentrum in Albisrieden hingegen bewegen sich auch die Bewohnenden mit Demenz tagsüber frei. Sie haben Zugang zum ganzen Gebäude und zu allen Räumen, zum grossen Garten und zum gesamten Aussenraum. Sie tragen einen elektronischen Weglaufschutz am Handgelenk, der einen Alarm auslöst, sobald sie das grosszügig und unauffällig eingezäunte Gelände verlassen. Die Mitarbeitende, die an diesem Tag im sogenannten Aussendienst tätig ist, erhält die Meldung und macht sich dann auf, um die Person wieder zurückzubegleiten. «Als wir diese Öffnung vor einigen Jahren beschlossen, hatten wir Angst, dass Bewohnende gleichzeitig das Gelände verlassen würden und wir es nicht schaffen, sie rechtzeitig zurückzubringen», erzählt Snezana Celikic, die Leiterin des Pflegediensts. Das habe sich glücklicherweise nicht bewahrheitet. Vor allem kurz nach dem Eintritt ins Gesundheitszentrum komme es vor, dass Personen in ihr altes Zuhause heimgehen wollten, nachher sei das selten. Am ehesten sei noch das Phänomen des sogenannten Sun Downing verbreitet, wenn die Leute nach Sonnenuntergang glauben, nach Hause gehen zu müssen, um etwa das Essen zubereiten.
Mehr Zufriedenheit, weniger Medikamente
Auch die anfängliche Angst vor mehr Stürzen hat sich nicht bestätigt, obwohl die Bewohnerinnen und Bewohner auch allein unterwegs sind. «Wir haben bestimmt den Vorteil, dass das Grundstück eben ist und sich keine grossen gefährlichen Strassen vor unserer Haustür befinden», meint Daniel Zimmermann. Hilfreich sei auch die Einbettung ins Wohnquartier, denn Personen aus den umliegenden Mehrfamilienhäusern kennen teilweise die Bewohnenden und helfen ihnen, sich zurechtzufinden, oder helfen als Freiwillige. Die positiven Auswirkungen auf das Befinden der Bewohnenden ist erstaunlich: «Seit wir ein offenes Haus führen, sind die Demenzerkrankten zufriedener und wir brauchen markant weniger Medikamente», führt Snezana Celikic aus. Zum Konzept des offenen Hauses gehört auch, dass sich die Mitarbeitenden stark an den unterschiedlichen Bedürfnissen der Bewohnenden orientieren. Dazu gehört etwa ein Frühstückbuffet, das bis nach zehn Uhr offen ist, sodass die Bewohnerinnen und Bewohner dann essen können, wenn sie Hunger verspüren. Im Demenz-Wohnbereich wird an den Wochentagen zudem eine Frühstücksbegleitung eingesetzt, die für eine regelmässige Präsenz sorgt und den Bewohnenden dadurch Sicherheit bietet und das Pflegeteam entlastet. In die Betreuung sind alle Bereiche des Gesundheitszentrums eingebunden – es ist die gemeinsame Verantwortung aller Mitarbeitenden, den Bedürfnissen der Menschen mit Demenz gerecht zu werden und ihnen die Freiheit des offenen Hauses zu bieten.
«Wir haben den Vorteil, dass das Grundstück eben ist und sich keine grossen gefährlichen Strassen vor unserer Haustür befinden.» Daniel Zimmermann, Demenzexperte
Da gerade an Demenz Erkrankte sehr unberechenbar reagieren können und es auch zu Aggressionen kommt, braucht es ein gewisses Grundwissen aller Angestellten. «Wir bieten Schulungen für den Umgang mit Demenzerkrankten für alle Mitarbeitenden in regelmässigen Abständen an», sagt Daniel Zimmermann. Zudem leitet er das Demenz-Café, in dem im lockeren Rahmen Fallbeispiele diskutiert werden und Mitarbeitende ihn direkt um Rat bitten können. Er stellt fest, dass für die Mitarbeitenden das ständige Ausbalancieren zwischen Sicherheit und Selbstbestimmung der Bewohnerinnen und Bewohner anspruchsvoll ist, und es manchmal schwierig ist, wann etwa aus Sicherheitsgründen in die Privatsphäre eingegriffen werden muss. Bewegungseinschränkende Massnahmen werden laut Zimmermann sehr zurückhaltend angewendet und nur nach einem interprofessionellen Fachgespräch mit den Pflegenden, Fachexperten, den Ärzten und Angehörigen. Um das Wohlbefinden der Bewohnerinnen und Bewohner zu fördern, stehen basale Stimulation, gustatorische Angebote, Aromapflege, Wickel, Tiertherapie und spirituelle Begleitung zur Verfügung. Um Fragen, Themen und Massnahmen im grösseren Rahmen zu besprechen, wird ungefähr dreimal pro Jahr ein Ethik-Café für die Mitarbeitenden veranstaltet. Das Ethik-Forum, an dem alle Disziplinen teilnehmen und das von einem externen Ethiker geleitet wird, dient dazu, schwierige Themen zu bearbeiten. Ziel dieser Massnahme ist es, eine gemeinsame Haltung zu entwickeln.
Viel Feinfühligkeit, weniger Perfektionismus
Wie sehen Situationen aus, die für Mitarbeitende oder Mitbewohnende anspruchsvoll sind? Bewohnerinnen und Bewohner ohne Demenz können sich daran stören, wenn auf einmal eine fremde Person auf dem Bett sitzt, weil sie den Weg ins eigene Zimmer nicht mehr gefunden hat. Oder wenn Mitarbeitende und Mitbewohnende des Diebstahls beschuldigt werden, weil eine demenzerkrankte Person ihre Wertgegenstände verlegt hat. Oder eine Reinigungskraft weiss nicht, wie sie reagieren soll, wenn ihr ein Bewohner mit Demenz zu nahe kommt. Durch das Diskutieren und die gemeinsame Haltung entsteht ein grösseres Zusammengehörigkeitsgefühl und stärkere gegenseitige Hilfsbereitschaft, also eine bessere Kultur, die allen zugute kommt. «Es ist wichtig, immer dranzubleiben, es ist ein ständiger Prozess, der nie fertig ist», betont Snezana Celikic. Neben der Ausdauer sei es wichtig, dass die Mitarbeitenden auch mal «den Fünfer gerade sein lassen». Weniger Perfektionismus sei angesagt, «es darf auch mal jemand den ganzen Tag im Pyjama rumlaufen, weil es grad so bequem ist». Früher waren die Sauberkeit und die Ordnung das Wichtigste und dass die Abläufe so liefen wie geplant. «Heutzutage wird mehr Rücksicht genommen auf die Autonomie des Einzelnen», so Snezana Celikic. Sie fasst zusammen: «Heute haben wir die Haltung, dass wir als Mitarbeitende bei den Bewohnenden in ihrem Daheim zu Gast sind.»
Trotz aller Bemühungen und Unterstützung ist die Arbeit mit an Demenz Erkrankten, die sich häufig auf einer emotionalen Achterbahn befinden, nicht jedermanns Sache. «Es braucht viel Feinfühligkeit und Achtsamkeit», findet Daniel Zimmermann. Er berichtet, dass beispielsweise einem Bewohner ein kleines Licht neben dem Bett für besseren Schlaf helfe oder wenn er mit einer Bewohnerin ein kurzes Abendgebet spreche. Je mehr über die Biografie einer Person bekannt sei, desto eher gelinge es, passend zu reagieren, nicht zuletzt in Krisen. Entscheidend seien qualifizierte Mitarbeitende, meint Snezana Celikic, die über viel Geduld und Flexibilität verfügten. Denn: «Die Stimmung von Demenzerkrankten kann von einer Sekunde zur anderen umschlagen – entsprechend gleicht kein Tag dem anderen.» Diese Abwechslung, das situative Reagieren und die tägliche neue Herausforderung schätzten viele Kolleginnen und Kollegen.
Foto: Gesundheitszentren für das Alter der Stadt Zürich