PSYCHISCHE BELASTUNGEN | «Das Gespräch ist das Wichtigste»

Die Zunahme von psychischen Krankheiten ist eine Herausforderung für die Betroffenen, ihr Umfeld und die ganze Gesellschaft. Muriel Langenberger, Geschäftsleiterin der Schweizer Stiftung Pro Mente Sana, erläutert Gründe für den Anstieg und wirksame Gegenmassnahmen und äussert sich zur Stigmatisierung von psychisch Erkrankten.
Frau Langenberger, psychische Erkrankungen nehmen in der Schweizer Bevölkerung zu. Ist der Leidensdruck tatsächlich grösser oder vor allem Ausdruck der Enttabuisierung psychischer Krankheiten?
Ich gehe davon aus, dass beide Faktoren zutreffen und zusammenspielen. Wichtig ist mir zu betonen, dass die Enttabuisierung nur punktuell stattgefunden hat, etwa bei Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen, die in verschieden starker Ausprägung vorkommen. Menschen mit psychischen Krankheiten wie beispielsweise Schizophrenie oder Borderline sind jedoch nach wie vor besonders häufig von Stigmatisierung betroffen. Psychische Erkrankungen werden heute häufiger erkannt und behandelt als früher, was eine erfreuliche Entwicklung darstellt. Es gilt aber auch aufzupassen und keine vorschnellen (Selbst-)Diagnosen zu treffen. Die Unterscheidung etwa zwischen psychischen Krankheiten und sonstigen Belastungen der Pubertät ist für Jugendliche und ihre Eltern schwierig – es braucht den Blick und die Abklärung einer externen Fachperson.
Wie zeigt sich das psychische Leiden?
Die verschiedenen Studien und Statistiken zeichnen ein klares Bild. Die aktuelle IV-Statistik etwa zeigt, dass rund 50 Prozent der neuen IV-Renten aufgrund einer psychischen Erkrankung gesprochen wurden – das ist enorm viel. Allein im Kanton Zürich, wo ich lebe und arbeite, haben sich die IV-Neurenten bei jungen Erwachsenen in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt. Ein weiteres Zeichen des Leidensdrucks sind die gestiegenen Langzeitabwesenheiten bei der Arbeit, wie eine Sotomo-Studie aufzeigt: Fast ein Viertel der Unternehmen ist von langen Abwesenheiten aufgrund von psychischen erkrankten Mitarbeitenden betroffen.
Und die Kliniken können die grosse Nachfrage kaum bewältigen.
Ja, die Hospitalisierungen und Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken haben auch stark zugenommen. Stationäre Behandlungen sind bei Mädchen und jungen Frauen zwischen 2020 und 2021 um 26 Prozent gestiegen, bei den gleichaltrigen Männern um 6 Prozent. Beunruhigend ist auch, dass erstmals psychische Leiden und nicht mehr wie bisher Unfälle und physische Krankheiten die häufigste Ursache für Hospitalisierungen bei den 10- bis 24-Jährigen sind. Der psychische Leidensdruck zeigt sich aber auch darin, dass in den letzten 25 Jahren viel mehr Schweizerinnen und Schweizer einen Psychologen oder eine Psychiaterin aufsuchten – dies weist der Obsan-Bericht nach.
Wenden wir uns nun den unterschiedlichen psychischen Erkrankungen zu: Welche kommen besonders häufig vor, und welche Entwicklungen gibt es?
In allen Ländern leiden besonders viele Menschen an Depressionen und Angststörungen. Die Obsan-Erhebung vom Herbst 2022 zeigte, dass viele befragte Schweizerinnen und Schweizer in den Wochen vor der Umfrage von Symptomen einer Essstörung betroffen waren. Zudem werden ADHS und Autismus-Spektrumsstörungen öfter abgeklärt und diagnostiziert, vor allem bei Frauen im Erwachsenenalter. Schizophrenie und Borderline sind generell weniger häufig, die Anzahl der Erkrankten bleibt über die Jahre hinweg und auch in allen Ländern ungefähr gleich. Es fällt ausserdem auf, dass die psychosomatischen Beschwerden zunehmen, also körperliche Leiden ohne klare organische Ursache, etwa Rückenschmerzen, Migräne und Schlafstörungen, die häufig mit Stress und emotionalen Belastungen zusammenhängen. Bei den Jugendlichen stellen wir fest, dass Selbstverletzungen und Suizidalität stark ansteigen. Die Notrufnummer 147 von Pro Juventute etwa erhält viel mehr Anrufe, und die Notlagen der jungen Personen sind gravierender, sodass manchmal auch Ambulanz und Polizei eingeschaltet werden müssen, um Suizide zu verhindern.
«Die psychotherapeutische Versorgungslage macht die Ungleichheiten in unserem Land deutlich, denn die Unterstützung bei psychischen Problemen ist nicht für alle gleich – etwa wegen finanzieller Hürden oder Sprachbarrieren.» Muriel Langenberger
Welche weiteren Personengruppen sind neben den jungen Menschen besonders betroffen?
Bei den Kindern und jungen Erwachsenen sind es vor allem die Mädchen und Frauen, die mit psychischen Belastungen kämpfen. Generell ist der weibliche Teil der Bevölkerung stärker betroffen. Menschen mit einem tieferen sozioökonomischen Hintergrund sind anfälliger für psychische Leiden ebenso wie Menschen in instabilen Lebenssituationen, etwa durch Flucht und Migration. Eine weitere vulnerable Gruppe ist auch die queere Community. Generell gilt: Traumatische Erfahrungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit für psychische Erkrankungen markant.
«Die psychotherapeutische Versorgungslage macht die Ungleichheiten in unserem Land deutlich, denn die Unterstützung bei psychischen Problemen ist nicht für alle gleich – etwa wegen finanzieller Hürden oder Sprachbarrieren.» Muriel Langenberger
Gibt es Ihrer Meinung nach einen Zusammenhang zwischen der Covid-Krise und dem Anstieg psychischer Krankheiten?
Die Pandemie hat uns vor Augen geführt, wie verletzlich wir Menschen sind. Über den Zusammenhang zwischen der Krise und der Zunahme psychischer Krankheiten wurde viel geforscht, geschrieben und diskutiert. Die meisten Experten sind sich inzwischen einig, dass Corona weniger ein Auslöser als vielmehr ein Katalysator war – insbesondere wenn schon eine erhöhte Verletzlichkeit vorlag. Für junge Personen war die Pandemie-Erfahrung besonders einschneidend, die Veränderung der Beziehungen zueinander, der Wegfall der Schule und des gewohnten Alltags, die allgegenwärtige generelle Verunsicherung in einer Zeit der eigenen jugendlichen Unsicherheit. Einen positiven Effekt der Covid-Krise gibt es jedoch auch, dass wir nämlich über Verunsicherung, Verwundbarkeit und psychisches Leiden reden. Das ist wichtig, denn jede zweite Person macht im Verlauf ihres Lebens eine psychische Krise durch. So sind wir entweder selber einmal psychisch erkrankt oder enge Angehörige – wir sind also direkt oder indirekt alle betroffen.
Warum nehmen denn die psychischen Erkrankungen so stark zu?
Es gibt keine alleinige Ursache, es kommen immer mehrere Gründe zusammen. Psychische Krisen entstehen aus einem Zusammenspiel von individuellen, sozialen und strukturellen Faktoren. In der Schweiz ist der gesellschaftliche Leistungsdruck besonders ausgeprägt – wir sind mit hohen eigenen und fremden Erwartungen in der Schule, im Beruf und im sozialen Miteinander konfrontiert. So kämpfen viele Schweizerinnen und Schweizer mit Mehrfachbelastungen in verschiedenen Bereichen, daraus entstehen schädlicher Stress und grosse Erschöpfung. Viele Leute haben das Gefühl, dass sie jederzeit funktionieren und (sich) optimieren müssen.
Gerade die Arbeit verlangt vielen tatsächlich viel ab.
Wir werden bei unseren Tätigkeiten immer wieder unterbrochen, sind grosser inhaltlicher Dichte und ständig neuen Informationen ausgesetzt, wir müssen über mehrere Kanäle erreichbar sein, unsere Arbeitsprozesse beschleunigen sich durch die Digitalisierung, und daneben gilt es auch noch, unsere Emotionen zu regulieren – unser Gehirn kann mit all dem gar nicht umgehen, wir sind überfordert, es ist einfach zu viel. Psychisch besonders belastend sind zudem Unsicherheiten im Job, prekäre Arbeitsverhältnisse und unklare Perspektiven. Damit sind häufig finanzielle Probleme verbunden, in Zeiten von Wohnungsnot in den Städten und steigenden Lebenshaltungskosten besonders bedrückend, und sie gehen einher mit Ängsten vor Armut und vor der Zukunft.
Und wo sehen Sie die Ursachen psychischer Krankheiten im privaten Bereich?
Hier ist die Einsamkeit ein grosses Thema. Trotz oder gerade wegen der digitalen Vernetzung fühlen sich viele einsam, besonders die jungen und die älteren Menschen. Auch viele «Friends» in den sozialen Medien können die konkreten zwischenmenschlichen Beziehungen nicht ersetzen und auch nicht die Nächsten, die wegsterben. Alleinerziehende und Personen mit Migrationshintergrund leiden ebenfalls besonders unter Einsamkeit, die oftmals zu psychischen Erkrankungen führt. Neben diesem sozialen Risikofaktor gibt es natürlich auch biologische Faktoren wie die genetische Veranlagung und psychologische Faktoren wie beispielsweise fehlende Bewältigungsstrategien.
Die Weltlage sieht auch nicht besonders rosig aus.
Ja, unsere heutige Zeit und unsere Welt ist geprägt von Multikrisen, dem Klimawandel, politischen Instabilitäten, schlimmen Kriegen und technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die nicht absehbar sind – dieses Weltgeschehen führt bei vielen Menschen zu Gefühlen der Ohnmacht, des Kontrollverlusts und der Angst. Unsere Psyche leidet, wenn wir den Eindruck haben, nichts bewirken und nichts verändern zu können, den Umständen einfach ausgeliefert zu sein. Vor diesem Hintergrund fallen die strukturellen Probleme noch stärker ins Gewicht: etwa der erschwerte Zugang zu psychotherapeutischer Versorgung wegen zu wenig Therapie- und Klinikplätzen – besonders bedenklich und frustrierend in einem reichen Land wie der Schweiz. Die psychotherapeutische Versorgungslage macht die Ungleichheiten in unserem Land deutlich, denn die Unterstützung bei psychischen Problemen ist nicht für alle gleich – etwa wegen finanzieller Hürden oder Sprachbarrieren.
Lassen Sie uns nun über die Unterstützungsmöglichkeiten bei psychischen Krisen reden: Was hilft in psychischen Notsituationen?
Das Wichtigste ist das Gespräch, der menschliche Austausch. Es geht darum, die schwierigen Themen und Belastendes zuzulassen. Betroffenen hilft es, wenn ihnen jemand zuhört und die Probleme aushält, mit Offenheit und ohne Vorwürfe. Es gibt nichts Schlimmeres als die Vermeidung, nicht hinzuschauen, nicht zu reden und nicht zuzuhören. Deshalb ist es gut, die betroffene Person anzusprechen, wenn sie das nicht von sich aus schafft. Dann gilt es die Lage einzuschätzen und der Person in Not den nötigen Raum zu geben. Dazu gehört, wann, wo und wie man zusammen spricht – es ist besser, sich an einem ruhigen Ort zu befinden und sich Zeit für das Gegenüber zu nehmen, um ernst gemeinte Fragen zu stellen, auf echte Antworten zu warten, Unterstützung anzubieten, auf Hilfsangebote aufmerksam zu machen und die Person vielleicht dorthin zu begleiten.
Das Rüstzeug für den Umgang mit Menschen in Krisen vermitteln unter anderem die Erste-Hilfe-Kurse für psychische Gesundheit, welche Pro Mente Sana anbietet. Wie sieht das aus?
In diesen sogenannten ensa-Kursen lernen die Teilnehmenden, wie man psychische Belastungen im privaten und beruflichen Umfeld erkennt und den betroffenen Personen hilft – eben Erste Hilfe leistet, bis professionelle Unterstützung möglich ist. Das mehrsprachige Kursangebot umfasst neben dem Standardkurs verschiedene thematische Schwerpunkte wie beispielsweise spezielle Angebote für Führungskräfte oder mit Fokus auf Jugendliche. Dabei handelt es sich um ein internationales Programm, das an Schweizer Verhältnisse angepasst wurde. Die Teilnehmendenzahlen wachsen jedes Jahr: 2024 zählten wir 9500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer und seit Beginn des ensa-Programms 2019 konnten wir bereits über 30 000 Personen ausbilden. Das Ziel ist, dass sich möglichst viele Menschen besser auskennen im Bereich der Früherkennung und der Prävention von psychischen Erkrankungen. Nach einem ensa-Kurs ist man sensibilisiert und weiss, was getan werden kann, wenn der Arbeitskollege sich plötzlich zurückzieht und immer müde ist oder wenn Personen im privaten Umfeld oder im öffentlichen Raum sich «komisch» oder «schwierig» verhalten. Daneben gibt es weitere niedrigschwellige Angebote verschiedener Anbieter und gemeinsame Gesundheitskampagnen wie «Wie geht’s dir?», die ein besseres Verständnis und Unterstützung bei psychischen Krankheiten ermöglichen – so lässt sich viel menschliches Leid mindern und auch die Kosten für die Arbeitgeber und die ganze Gesellschaft reduzieren.
Wie können besonders vulnerable Personen unterstützt werden, etwa Menschen im Alter, mit Behinderungen oder in schwieriger Lage während der Kindheit?
Das hängt mit den jeweiligen individuellen Ressourcen und den strukturellen Rahmenbedingungen zusammen – es geht darum, alle vorhandenen Ressourcen zu mobilisieren und zu stärken. Die Unterstützung für vulnerable Menschen unterscheidet sich jedoch nicht grundsätzlich von der Hilfe und den Möglichkeiten, die wir eben besprochen haben. Ein besonderes Augenmerk gilt es von Arbeitgeberseite auch auf die Mitarbeitenden in den Gesundheits- und Sozialberufen zu haben, die vulnerable Menschen begleiten – und ihrerseits durch die besonderen Herausforderungen ihres Berufs oft psychische Belastungen erleben.
Wo sehen Sie Potenzial im Kampf gegen psychische Krankheiten?
Es gibt die individuelle Ebene, auf der jeder Einzelne Möglichkeiten hat, sich um die eigene psychische Gesundheit zu kümmern: durch Beziehungspflege, Aktivitäten, Kreativität, gesunde Nahrung, Bewegung, genug Schlaf und Erholung, Lernen von Neuem, Selbstakzeptanz, aber auch durch die Fähigkeit, gegebenenfalls Hilfe anzunehmen. Hierzu gibt die Kampagne «Wie geht’s dir?» viele hilfreiche Impulse. Im Bereich der Arbeit ist es wichtig, dass der Betrieb die Psyche zum Thema macht, eine gesunde Arbeitskultur gepflegt wird, vor allem auch von den Führungskräften mit ihrer Vorbildrolle, und externe Hilfsangebote zur Verfügung stehen. Auf der politischen Ebene gilt es, die Unterstützungsmöglichkeiten bei psychischen Krankheiten zu stärken – gerade auch die präventiven und die niederschwelligen Angebote – und die finanziellen und strukturellen Rahmenbedingungen zu verbessern.
Hilfsangebote für die psychische Gesundheit
Pro Mente Sana: https://www.promentesana.ch
Erste-Hilfe-Kurse: https://www.ensa.swiss/
Kampagne «Wie geht’s dir?»: https://www.wie-gehts-dir.ch/
Foto: Pro Mente Sana