QUALITÄT | Tradition verbindet sich mit einem Bewusstsein für Qualität

13.12.2023 Anne-Marie Nicole

Wie in allen Pflegeheimen gehört auch im Alterszentrum Ried in Biel die Erhebung von Daten zwecks Berechnung nationaler medizinischer Qualitätsindikatoren seit ­einigen Jahren zum Alltag. Der Nutzen dieser gesetzlichen Verpflichtung ist für die Verantwortlichen – noch – nicht ganz ersichtlich. Sie stellen aber fest, dass damit das Bewusstsein für einen Qualitätsentwicklungsprozess gestärkt wird.

Das in erhöhter Lage im Bieler Beaumontquartier liegende Alterszentrum Ried feiert in ein paar Monaten sein 95-jähriges Bestehen. In den 1920er-Jahren übernahm die Stadt Biel von der Erbengemeinschaft der Familie Robert, einer seit Mitte des 19. Jahrhunderts in der Region ansässigen Malerdynastie, mehrere Anwesen. Mit dem Kauf verpflichtete sich die Gemeinde, die Grundstücke vor allem zu humani­tären Zwecken zu nutzen und die Gebäude des ­Oberen und Unteren Ried in ein Alters- und Pflegeheim umzuwandeln. Damals befand sich im Unteren Ried noch das Atelier von Léo-Paul Robert. Heute bietet es 38 Langzeitpflegeplätze in Einzel- oder Doppelzimmern sowie 16 Studios für «Menschen im Alter, die Unterstützungs­bedarf haben, aber noch nicht bereit für den Eintritt ins Pflege­heim sind», erklärt die Leiterin Pflege, Sandra Debboub. Das Obere Ried schloss hingegen vor Kurzem seine Türen. Das Alterszentrum verfügt über eine öffentliche Cafeteria und dient im Quartier als Begegnungsort. Es ist eines von vier kommunalen Alters- und Pflegeheimen der Stadt Biel. 

Auf den verschiedenen Stockwerken ist beim Besuch der Schreibenden noch Frühstückszeit. Die Tische stehen verstreut in einem Labyrinth von Gängen, das von den im Laufe der Jahre vorgenommenen Umbauten, Renovationen und Vergrösserungen zeugt. Es herrscht eine friedliche ­Atmosphäre. Während die einen sich noch Zeit nehmen, um ihr Frühstück zu beenden, befinden sich andere für Pflegeleistungen bereits wieder in ihrem Zimmer oder sind auf dem Weg ins Erdgeschoss, wo ein Team mit den Weihnachtsdekorationen begonnen hat. 

Pflegequalität und Lebensqualität

«Was ist wichtiger? Die Pflegequalität oder die Lebensqualität?», fragt die Geschäftsleiterin Angela Rebetez und bezieht sich dabei auf die Momente im Alltag, in denen jede Person das Leben nach ihrem Rhythmus und ihren Wünschen gestalten kann. «Selbstverständlich trägt die Pflegequalität zur Lebensqualität bei. Aber die Lebensqualität ist etwas Persönliches. Man kann sie nicht so einfach bewerten. Auf diese Lebensqualität legen wir unseren Fokus.»

Vor einigen Jahren hielten die Pflegeteams des Alterszentrums Ried in einem Referenzdokument ihre Definition von Pflegequalität fest. Im Zentrum ihrer Tätigkeit stehen das Respektieren der persönlichen Wünsche und die Begleitung des Lebensentwurfs aller Bewohnerinnen und Bewohner. Sandra Debboub weist darauf hin, dass das Respektieren der Wahlfreiheit einer Person den Wert eines medizinischen Qualitätsindikators beeinflussen kann. Sie zeigt das Dilemma am Beispiel des Indikators Sturz auf, den das Alterszentrum zusätzlich zu den sechs nationalen Qualitätsindikatoren erhebt: Sie erzählt von einem fiktiven Bewohner, der seine Beine nicht mehr wirklich gut nutzen kann, jedoch auf seiner Selbstständigkeit besteht und den Transfer vom Bett auf den Stuhl und zurück selbst bewältigen will. Das Team bespricht mit ihm das Risiko eines Sturzes. Er ist sich dessen bewusst und nimmt es in Kauf. Seine Wahl wird dokumentiert, das gesamte Personal weiss Bescheid und respektiert sie. «Der Entscheid dieses Mannes kann die Zahl der Stürze negativ beeinflussen. Das ist nicht gut für die Statistik», meint die Leiterin ironisch, «dafür aber für seine Lebensqualität und seine Selbstbestimmung!»

Kontinuierliche Analyse der Werte

Seit 2019 ist das Alterszentrum Ried wie alle Schweizer Pflege­einrichtungen dazu angehalten, sechs nationale medizinischen Qualitätsindikatoren (MQI) zu erheben. Das «Ried» macht dies mithilfe des Bedarfserfassungsinstruments Besa und – teilweise – mittels eines Pflegedokumentationssystems. Es handle sich dabei aber um nichts wirklich ­Neues, unterstreicht Sandra Debboub. Und Angela Rebetez führt aus: «Wir hatten bereits vor dem Erfassen der nationalen medizinischen Qualitätsindikatoren ein Qualitätsmanagementsystem, zuerst in Papierform, dann elektronisch.» Hinzu kamen Instrumente, mit denen gewisse Pflegehandlungen und Massnahmen in verschiedenen Bereichen wie Orientierungsfähigkeit, Stürze, Schmerzen oder Mangelernährung bewertet und deren Entwicklung über längere Zeit verfolgt worden sei. «Unsere Praxis basiert auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, wie dies im Bereich der Pflege allgemein üblich ist», betont Pflegedienstleiterin Sandra Debboub. Die Pflegeteams des Alterszentrums Ried verfolgen monatlich die Entwicklung der Werte bei einer Reihe von Indikatoren, etwa bei Stürzen, Dekubitus oder bewegungseinschränkenden Massnahmen, und klären ab, mit welchen 

Die peramanente Suche nach Lösungen gehört zu unserer Pflegepraxis und unser Ziel besteht natürlich darin, möglichst keine Fälle zu haben.»
Sandra Debboub, Leiterin Pflege 

Massnahmen sich die beste Pflegequalität sicherstellen lässt. Dazu gehören zum Beispiel die Einschränkung von Bettgittern oder Sicherheitsgurten an Rollstühlen. Letztere werden seit fast zehn Jahren nur noch in seltenen Ausnahmefällen verwendet. «Die perma­nente Suche nach Lösungen gehört zu unserer Pflegepraxis, und unser Ziel besteht natürlich darin, möglichst keine ­Fälle zu haben», meint Sandra Debboub. Jeden Monat liefern das Alterszentrum Ried und die anderen drei kommunalen ­Heime der für sie zuständigen Bieler Aufsichtsbehörde die Zahlen zu den Dekubitus-Fällen, zu Stürzen und bewegungseinschränkenden Massnahmen. Zudem rapportieren die Heime der Behörde die Pflegestufen der Bewohnenden und allfällige Beschwerden von Angehörigen. 

Im Blick hat das Alterszentrum Ried auch alle sechs nationalen Qualitätsindikatoren zu den vier Messthemen Mangelernährung, bewegungseinschränkende Massnahmen, Polymedikation und Schmerz. Zu den beiden letztgenannten Indikatoren sagt die Pflegedienstleiterin: «Die Medikamentenüberwachung und die Schmerzeinschätzung bei unseren Bewohnerinnen und Bewohnern gehörten schon immer zu unseren Qualitätsstandards.» Und zwar mithilfe von Instrumenten und Skalen, die auch der kognitiven Leistungsfähigkeit der Bewohnenden Rechnung tragen.

Sinn eines Vergleichs zwischen den Heimen

Am Nutzen der nationalen medizinischen Qualitätsindikatoren für das Alterszentrum Ried hegen die beiden Leiterinnen aber so ihre Zweifel. Ihr erster Gedanke ist, dass die Indikatoren «uns persönlich nicht viel» bringen, weil das Heim diese Werte intern bereits seit längerer Zeit in einem Monitoring erfasst. Vor allem hinterfragen sie den mit der gelanten Veröffentlichung der Indikatoren einhergehenden Vergleich zwischen den Heimen. So meint Angela Rebetez: «Muss ich mich nur verbessern, weil ich im Vergleich zu den anderen ein schlechteres Resultat erziele? Sollte ich mich nicht eher verbessern, sobald ich von einem Problem ­Kenntnis habe?» Die Geschäftsleiterin gesteht jedoch ein, dass die nationale Erhebung zu einer gewissen Sensibili­sierung geführt habe. Sandra Debboub bestätigt dies. 

Sobald die Datenblätter der Indikatoren zur Verfügung gestanden sind, informierte sie das Personal und initiierte anschliessend Gruppenarbeiten mit den Pflegefachpersonen zwecks Definition von Qualitätsstandards für jeden Indikator. «Dies ermöglichte uns, das Personal für die Beurteilungskriterien der Pflegequalität zu sensibilisieren, gewisse ­Verfahren wie zum Beispiel für die Beurteilung von Mangel­­ernährung zu überdenken und anzupassen.»

Die Realität vor Ort berücksichtigen

Sandra Debboub bedauert indes, dass sich die nationalen Indikatoren lediglich auf die Pflege beziehen, da das Wohlbefinden und die Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner auf interdisziplinärer Teamarbeit beruhen. Auch um über diese Praxisrealität berichten zu können, schloss sie sich der Westschweizer Regionalgruppe des nationalen Implementierungsprogramms – Qualität der Langzeitpflege in Alters- und Pflegeheimen (NIP-Q-Upgrade) an, dessen Hauptziel die Unterstützung der Institutionen bei der ­datenbasierten Verbesserung ihrer Versorgungsqualität ist (siehe dazu auch Seite 26).

Sandra Debboub und Angela Rebetez erachten es für ­zentral, den Programmverantwortlichen die Realität im ­Pflegealltag aufzuzeigen. «Im Rahmen solcher Projekte gibt es immer wieder Expertinnen und Experten, die zu weit von der Realität entfernt sind und denen das Bewusstsein fehlt, was wir im Alltag machen», bedauert Angela Rebetez. ­Sandra Debboub stellt durchaus befriedigt fest, dass sie den am Programm NIP-Q-Upgrade beteiligten Forschenden der Haute École de la Santé La Source in Lausanne an einer ersten Sitzung die Alltagsrealität erläutern und ihre Bedürfnisse mitteilen konnte. Als gewinnbringend erachtet sie im Rahmen des Programms insbesondere den Austausch mit anderen Pflegeheimen. Dabei geht es etwa darum, welche Erfahrungen andere Heime mit der Erhebung der Daten für die Indikatoren machen und mit welchen Massnahmen sie ihre Pflegequalität verbessern.

«Einige Kantone verfügen über finanzielle Mittel und Fachkräfte, an die wir nicht annähernd herankommen. Wie soll man unter diesen Bedingungen Vergleiche ziehen können?»
Sandra Debboub

Sichtbar werden durch den kantonsübergreifenden Austausch, so Sandra Debboub, gerade auch die Unterschiede zwischen den Kantonen. Es gebe in der Pflege vielfältige Praktiken und Organisationsmöglichkeiten. «Mich überraschen aber vor allem die ungleichen Mittel. Einige Kantone verfügen über finanzielle Mittel und Fachkräfte, an die wir nicht annähernd herankommen. Wie soll man unter diesen Bedingungen Vergleiche ziehen können?» Zudem hinterfragt sie die fehlende Harmonisierung der verschiedenen Systeme zur Abklärung des Pflegebedarfs. Die Antworten auf solche Fragen dürften nicht ganz einfach sein. Im ­Moment sind die Mitglieder der Westschweizer Regionalgruppe dazu eingeladen, ihre Überlegungen weiterzuführen und ihre Anmerkungen – bis zur nächsten Sitzung – per Mail zu kommunizieren. 
 


Das Alterszentrum Ried in Biel: In der traditionsreichen Liegenschaft werden seit knapp 100 Jahren Seniorinnen und Senioren begleitet und gepflegt. Die Verantwortlichen engagieren sich für eine gute Pflege- und Lebensqualität.

 

Foto: Fabio Blaser/Ried