QUALITÄT | «Transparenz soll zu Verbesserungen beitragen»

13.12.2023 Elisabeth Seifert

Seit 2019 sind alle Pflegeheime verpflichtet, sechs medizinische Qualitätsindikatoren zu erheben. Demnächst werden diese erstmals veröffentlicht. Daniel Domeisen und Verena Hanselmann vom Branchenverband CURAVIVA erläutern die ­Indikatoren und zeigen auf, wie mittels dieser Daten ein Qualitätsentwicklungs­prozess ­ermöglicht wird. Praktische Hilfe bietet dabei das nationale ­Implementierungsprogramm – Qualität der Langzeitpflege in Alters- und Pflegeheimen.

Herr Domeisen, Sie waren ­vonseiten der Leistungserbringer-­Verbände wesentlich daran ­be­teiligt, die aktuellen sechs medizinischen Qualitätsindikatoren zu definieren. Lässt sich gerade mit diesen die Pflegequalität ­besonders gut überwachen?

Daniel Domeisen: Wir haben uns sehr bewusst für diese sechs Indikatoren respek­tive die vier Messthemen Mangel­ernährung, bewegungseinschränkende Massnahmen, Polymedikation und Schmerz entschieden. Unter den vielen weiteren Indikatoren, die grundsätzlich möglich wären, handelt es sich dabei um Themen, die Pflegende ­mittels bestimmter Massnahmen so beeinflussen können, dass eine höhere Pflegequalität resultiert.

Verena Hanselmann: Es war ein komplexer und mehrjähriger Prozess nötig, um herauszufinden, welche Indika­toren wirklich wichtig sind. An diesem Prozess mitgewirkt haben Fachleute unterschiedlicher Bereiche. Wichtig dabei waren auch die Erfahrungen aus dem Ausland. 

Domeisen: Wir haben uns von Anfang an dafür eingesetzt, keinen nutzlosen statistischen Zahlenfriedhof zu produzieren. Im Zentrum all unserer Bemühungen rund um die gesetzliche Verpflichtung, solche Indikatoren festzulegen, stand das Wohlbefinden der Bewohnerinnen und Bewohner. Die definierten vier Messthemen lassen sich sehr gut zum Wohl der Bewohnenden beeinflussen. 
 

Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass Pflegequalität ­bedeutend umfassender ist als diese sechs Indikatoren. 

Hanselmann: Pflege und Pflegequali­tät müssen ganzheitlich betrachtet werden, es gibt viele Faktoren, die hier mitspielen. Dazu gehört etwa, die ­individuellen Bedürfnisse und Werte der Bewohnenden zu berücksichtigen. Ganz wichtig sind auch das pflege­rische Know-how und die Zusammenarbeit im Team. Die Berücksichtigung dieser Aspekte trägt dazu bei, die Indi­katoren positiv zu beeinflussen. Die medizinischen Qualitätsindikatoren messen ja nichts anderes als die Ergebnisse pflegerischer Handlungen in den von den Indikatoren erfassten Bereichen. Es braucht zum Beispiel sehr viel Know-how und eine gute Zusammenarbeit, um bei demenzkranken Personen festzustellen, welche Schmerzen sie empfinden. Je besser dies gelingt, desto gezielter können entsprechende Massnahmen eingeleitet werden.

Domeisen: Die vier Messthemen sind eine Stichprobe und beurteilen damit längst nicht die Pflegequalität als Ganzes. Es handelt sich aber, wie bereits gesagt, um Themen, die das Wohl der Bewohnenden wesentlich mitbestimmen. 

Neben den aktuellen sechs Indika­toren zu vier Messthemen wird auf nationaler Ebene bereits die Einführung weiterer Indika­toren geprüft. 

Hanselmann: Es werden derzeit drei weitere Indikatoren geprüft. Und zwar wiederum in einem ähnlichen Verfahren, also unter Einbezug verschiedener Fachleute sowie internationaler Erfahrungen. Zum einen geht es um Dekubitus, also das Wundliegen. Ähnlich wie die aktuellen Indikatoren misst auch dieser Indikator das Ergebnis von Pflegehandlungen und steht in einem direkten Bezug zum Wohlbefinden der Bewohnenden. Etwas anders ist das bei den Indikatoren gesundheitliche Vorausplanung und Medikationsreview …
 

… diese messen bestimmte Leistungen respektive Massnahmen des Betriebs. 

Domeisen: Mit diesen beiden Indika­toren soll gemessen werden, wie hoch die Quote der Bewohnenden ist, bei denen der Betrieb eine Medikations­review oder eine gesundheitliche Vorausplanung durchführt. 

Hanselmann: Bei der Medikationsreview geht es darum, in einem strukturierten Prozess zu überprüfen, ob Anpassungen in der Medikation vor­­genommen werden müssen. Bei der gesundheitlichen Vorausplanung werden Wünsche und Vorstellungen der Bewohnenden gerade auch im Hinblick auf die End-of-Life-Phase in Erfahrung gebracht. 

«Wir haben uns von Anfang an dafür eingesetzt, keinen nutzlosen statistischen Zahlenfriedhof zu produzieren. Die ­definierten vier Messthemen lassen sich gut zum Wohl der Bewohnenden beeinflussen.»
Daniel Domeisen

Sind immer weitere Indikatoren nicht eine Überforderung für die Heime?

Domeisen: Wir werden die Anzahl der Indikatoren natürlich nicht ins Unermessliche steigern. Wenn wir zum Beispiel feststellen, dass sich ein Indikator im Verlauf der Zeit nicht mehr mit weiteren Massnahmen beeinflussen lässt, dann nehmen wir diesen wieder raus und fokussieren auf ein anderes Thema.


Sie betonen, dass das Wohl­befinden der Bewohnenden im Zentrum der Messungen steht. Damit es den Bewohnenden gut geht, braucht es aber mehr als «nur» eine gute Pflegequalität?

Domeisen: Das ist ein Hauptdilemma, das wir in der stationären Langzeitpflege und -betreuung haben. Wir erwähnen vonseiten der Verbände immer wieder, dass die Pflegeinstitutionen einen Spezial­status haben. Der Bereich, der durch das KVG abgedeckt wird und die Heime dazu verpflichtet, medizinische Qualitätsindikatoren zu erheben, macht nur einen Teil der Aufgaben aus. Über die Pflege hinaus haben Pflegeheimbewohnende Bedürfnisse wie alle anderen Menschen auch. Diese müssen ebenfalls in einer entsprechenden Qualität ab­gedeckt werden: zum Beispiel in den Bereichen Wohnen, Sicherheit, Essen und Trinken oder Lebensgestaltung.

«Die Indikatoren bieten die Chance, ­einen datenbasierten Qualitätsverbesserungsprozess einzuleiten. Wenn man das ­erfolgreich macht, reduzieren sich idealerweise die Probleme, und damit sinkt der Aufwand.»
Verena Hanselmann

Besteht das Dilemma darin, dass man aufgrund der gesetzlichen Anforderungen viele Ressourcen in diesen Bereich stecken muss und keine mehr für den Rest übrigbleiben?

Domeisen: Wir haben uns sehr dafür eingesetzt, dass bei der Erhebung der medizinischen Qualitätsindikatoren kein administrativer Aufwand entsteht. So ist kein neues Instrument geschaffen worden. Die Erfassung der relevanten Daten ist vielmehr in die gängigen Bedarfser­fassungsinstrumente integriert worden. Ein gewisser Aufwand entsteht, wenn man Verbesserungsmassnahmen umsetzt. 

Hanselmann: Die Indikatoren bieten die Chance, einen datenbasierten Quali­tätsverbesserungsprozess einzuleiten. Wenn man das erfolgreich macht, redu­zieren sich idealerweise die Probleme, und damit sinkt der Aufwand.
 

Seit 2019 sind die Heime verpflichtet, die genannten sechs ­Indikatoren zu erheben und an die Bundesbehörden weiter­zu­leiten. Anfang 2024 werden die Daten erstmals veröffentlicht. Was soll damit erreicht werden?

Domeisen: Die Heime unterstehen dem KVG, was die gesetzliche Pflicht mit sich bringt, dem Bund bestimmte Daten zu liefern, die dann veröffentlicht werden müssen. Seit Jahren bereits erheben die Institutionen ihre betrieblichen Daten, die jährlich in der Statistik der sozialmedizinischen Institutionen, kurz Somed-Statistik, veröffentlicht werden. Jetzt kommen die medizinischen Qualitätsindikatoren dazu. 

«Bei der Interpretation der Indikatorwerte muss immer auch die spezifische Situation eines Heims mit einbezogen werden, man darf keine vorschnellen Schlüsse ziehen.»
Daniel Domeisen

… und worin liegt der Zweck der Veröffentlichung?

Domeisen: Es geht um die Herstellung von Transparenz. Das ist der einzige Zweck. Die Daten können und dürfen aber nicht dazu genutzt werden, um Ranglisten zu erstellen.

Hanselmann: Die Veröffentlichung schafft Transparenz. Und zwar für die Bewohnenden, ihre Angehörigen, die Mitarbeitenden und die Finanzierer. Diese Transparenz fördert die Sensibilität und kann respektive soll zu einem kontinuierlichen Prozess der Qualitätsverbesserung beitragen.

Domeisen: Es bestehen ja bereits Erfahrungen mit der Veröffentlichung der betrieblichen Daten in der Somed-Statistik. Wenn der Betrieb weiss, dass seine Daten veröffentlicht werden, dann wird er dafür sorgen, dass sich die Daten im Verlauf der Jahre zumindest nicht verschlechtern, sondern eher verbessern.
 

Sie sagen, dass keine Ranglisten erstellt werden dürfen: Institu­tionen und Kantonen sind in den gemessenen Bereichen aber doch miteinander vergleichbar.

Domeisen: Man kann die Daten von Institutionen und Kantonen in den gemessenen Bereichen miteinander vergleichen, da stimme ich zu. Um einen solchen Vergleich zu ermöglichen, werden bei der Berechnung der Indikatorwerte ja bestimmte Unterschiede in der Struktur der Bewohnenden und der Heime mitberücksichtigt, welche die Indikatorwerte zusätzlich beeinflussen. So zum Beispiel die Pflege­intensität oder auch die kognitive Leistungsfähigkeit der Bewohnenden. Dennoch muss man gerade mit wertenden Vergleichen sehr vorsichtig sein. 
 

… können Sie Ihre Skepsis gegenüber wertenden Vergleichen näher erläutern?

Domeisen: Die Unterschiede in der Struktur der Bewohnenden und auch die betriebliche Situation einer Institution oder deren fachliche Spezialisierung kann bei der Berechnung der Indikatorwerte nie vollständig berücksichtigt ­werden. Es kann also gute Gründe geben, weshalb eine Institution scheinbar ­weniger gut abschneidet. Es scheint mir deshalb sehr wichtig, dass bei der Interpretation der Indikatorwerte immer auch die spezifische Situation eines Heims einbezogen wird und man keine vorschnellen Schlüsse zieht.

Hanselmann: Aus besonders hohen Indi­katorwerten einer Institution darf man zudem nicht auf eine grundsätzlich schlechte Pflegequalität schliessen, weil die Indikatoren ja nur einen bestimmten Ausschnitt messen. Gleichzeitig erhofft man sich aber aufgrund der ­Daten, zu einer nationalen Beurteilung der Qualität in den gemessenen Bereichen zu gelangen, basierend auf einheitlichen Prozessen und Messmethoden. Auf dieser Grundlage geht es dann ­darum, den Qualitätsverbesserungs­prozess weiter voranzutreiben. 


Wie können die einzelnen Institutionen mit der Publikation ihrer Daten umgehen?

Domeisen: Die Betriebe können die Ergebnisse als Marketinginstrument nutzen, zum Beispiel an Informationsveranstaltungen für Angehörige. Und zwar gerade auch dann, wenn die Werte im Vergleich mit anderen Institutionen weniger gut ausfallen. Die Verantwortlichen können die Werte im Detail erläutern, die Gründe für die Ergebnisse darlegen und ausführen, welche Massnahmen angedacht sind. 


Was braucht es, um diesen Qualitätsverbesserungsprozess auf nationaler Ebene verbindlich
voranzutreiben?

Domeisen: Ein Faktor sind hier die Qualitätsverträge, welche die Krankenversicherer mit allen Gruppen von Leistungserbringern abschliessen müssen. Die Verträge mit den Akutspitälern werden demnächst unter Dach und Fach sein. Und an zweiter Stelle sind dann wir dran, Curaviva und Sene­suisse, die Verbände der stationären Langzeitpflege. Die ausgehandelten Verträge sind dann verbindlich für die einzelnen Leistungs­erbringer.


Bedeutet das nicht wieder zu­­sätz­lichen Aufwand für die Branche, vor allem für die einzelnen Institu­tionen? 

Hanselmann: Die Institutionen erfüllen bereits etliche Anforderungen der Verträge, etwa die Erhebung der Qualitätsindikatoren. Zudem werden sie verpflichtet, nachweisbar an der Ver­bes­serung ihrer Qualität zu arbeiten. Dazu gehört auch, dass sie über Qualitäts­managementsysteme verfügen müssen. Viele Kantone verlangen von den Insti­tutionen bereits ein solches System.

Domeisen: Was den Aufwand betrifft, haben wir klar signalisiert, dass wir vonseiten der Verbände den Vertrag erst dann unterschreiben werden, wenn die Finanzierung geklärt ist. Dies betrifft die Finanzierung für Zusatzaufwände, etwa den Aufbau eines Qualitätssystems, Software-Anpassungen oder Audits.


Die Verbesserungen müssen dann schliesslich von den einzelnen Heimen geleistet werden?

Hanselmann: Die Institutionen werden aber nicht allein gelassen. Um die Institutionen in zu unterstützen, hat die Eidgenössische Qualitätskommission EQK das nationale Implementierungs­programm – Qualität der Langzeitpflege in Alters- und Pflegeheimen lanciert, kurz NIP-Q-Upgrade genannt. Von 2022 bis 2026 haben die Verbände Curaviva und Senesuisse den Auftrag, gemeinsam mit der Praxis und mit wissen­schaftlicher Begleitung aus ­allen Landesteilen lösungs- und praxis­taugliche Massnahmen zu entwickeln. 


Können Sie das Programm ­NIP-Q-Upgrade kurz erläutern? 

Hanselmann: Es geht darum, praktische Arbeitsinstrumente zu entwickeln. Und zwar geht es erstens um Arbeitsinstrumente, welche die Institutionen dabei unterstützen, die Erhebung der Daten weiter zu verbessern. Und zweitens geht es um Instrumente, die unterstützend wirken bei der Optimierung der datenbasierten Qualitätsentwicklung. 


Was erhoffen Sie sich von diesem Nationalen Implementierungsprogramm?

Hanselmann: Letztlich geht es darum, das Wohlbefinden der Bewohnerinnen und Bewohner zu erhöhen. Ein wichtiger Nutzen des Programms ­besteht aber, wie gesagt, darin, die Datenerhebung zu erleichtern und die Daten mittels praktischer Instrumente für die Weiterentwicklung der ­Qualität nützen zu können.

Domeisen: Besonders betonen möchte ich, dass es sich um ein nationales Programm handelt, auf der Grundlage national ausgehandelter Qualitätsverträge. Damit wird verhindert, dass unter dem gleichen Gesetz 26 verschiedene Lösungen entstehen. Vom Bund über die Versicherer und die Kantone bis zu den Verbänden mit ihren Kollektivmitgliedern und allen Alters- und Pflegeheimen: Alle bemühen sich gemeinsam, die stationäre Langzeitpflege weiterzuentwickeln. 


Unsere Gesprächspartner*innnen

Daniel Domeisen ist Leiter Gesundheits­ökonomie des Branchenverbands CURAVIVA.
Verena Hanselmann ist Projektleiterin Gesundheitsökonomie bei CURAVIVA.



Foto: esf