SOZIALE UNTERNEHMEN | Ohne Druck teilhaben können

20.09.2023 Elisabeth Seifert

Mit der Schweizerischen Post engagiert sich erstmals ein schweiz­weit tätiger Konzern dafür, dass Menschen mit einem ­hohen Unterstützungsbedarf am allgemeinen Arbeitsmarkt teilhaben können. Begleitet worden ist das Projekt vom ­Branchenverband ­INSOS und von mehreren sozialen Unternehmen. Bis Ende 2024 sollen 50 unbefristete Teilzeitstellen geschaffen werden.

Seit Mitte Juli bietet die Post Menschen mit Beeinträchtigung schweizweit neue Arbeitsmöglichkeiten an. Damit wird ein Projekt umgesetzt, das der Bereich PostNetz in 13 seiner Filialen sowie an einem Standort des Contact Centers zwischen Februar 2022 und Mai 2023 getestet hat. Im Rahmen dieses Pilotprojekts ging es darum zu prüfen, was es braucht, damit Menschen mit Behinderungen unterschiedlicher Art, die im ergänzenden Arbeitsmarkt tätig sind, am regulären Arbeitsmarkt teilhaben können. Eng begleitet worden ist das Projekt vom Branchenverband INSOS und mehreren sozialen Unternehmen.

Gemeinsam haben die Post und INSOS mit seinen Integrationsbetrieben ein standardisiertes Vorgehen erarbeitet, das die Grundlage für die Einführung in Postfilialen der ganzen Schweiz bildet. Zentraler Aspekt dabei ist die Zusammenarbeit zwischen einer Filiale und einem sozialen Unternehmen, bei dem die Menschen mit Behinderung mit einem Arbeitsvertrag angestellt sind. Das soziale Unternehmen rekrutiert Mitarbeitende, die sich für eine Tätigkeit bei der Post interessieren. Dabei handelt es sich immer um einen Teilzeiteinsatz. Die Postfiliale und der Integrationsbetrieb besprechen die gegenseitigen Erwartungen, definieren die Arbeitsinhalte, auch das genaue Arbeitspensum. Die Menschen mit Behinderung erhalten die Möglichkeit, ihr Arbeitsumfeld kennenzulernen, von der Post wird eine Praxisbetreuung zur Seite gestellt. Die Gesamtverantwortung für die Person während des – unbefristeten – Teilzeiteinsatzes bleibt beim sozialen Unternehmen. Dieses unterstützt und begleitet sie und zeichnet sich verantwortlich für die Administration sowie sämtliche Pflichten des Arbeitgebers.

Nebst den aus dem Pilotprojekt bestehenden 13 Teilzeitstellen will die Post bis Ende 2024 rund 35 weitere Stellen für Menschen mit einer Behinderung schaffen. Das Interesse ist gross. «Bereits im Rahmen des Pilotprojekts gab es viele Anfragen von Integrationsbetrieben, die wir alle auf eine Warteliste gesetzt haben», sagt Florian Fertl, Leiter Unternehmensentwicklung von PostNetz und Mitglied der Geschäftsleitung. Mit diesen Interessierten trete man jetzt in Kontakt. Gleichzeitig kommen sukzessive weitere Anfragen dazu.

Eine neue Zielgruppe im Blick 

«Inklusion PostNetz», so der Name des Projekts, ist eingebettet in eine Strategie des gesamten Postkonzerns, bei der soziale Nachhaltigkeit eine wichtige Rolle spielt. Die verschiedenen Unternehmensbereiche der Post nehmen ihre soziale Verantwortung auf unterschiedliche Weise wahr. Dazu gehören etwa die Reintegration erkrankter oder verunfallter Mitarbeitender oder auch berufliche Eingliederungsmassnahmen im Rahmen der IV. Diese Massnahmen zielen auf den Erhalt der Arbeitsfähigkeit oder die Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt ab. Mit «Inklusion PostNetz» nimmt die Post eine Zielgruppe in den Blick, die sie bis jetzt noch wenig berücksichtigt hat: So sollen auch Menschen, die aufgrund ihrer Beeinträchtigung nicht am allgemeinen Arbeitsmarkt teilnehmen können, eine Chance zur Teilhabe erhalten. Um die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung besser zu verstehen und die Ansatzpunkte für eine solches Projekt zu entwickeln, hat die Post gemäss Florian Fertl bereits bei Beginn der Projektarbeiten den Kontakt zu sozialen Unternehmen gesucht. In einem ersten, kleinen Pilotprojekt zwischen der Band-Genossenschaft in Bern und zwei Postfilialen im Raum Bern habe man erste, wichtige Erkenntnisse gewinnen können. In beiden Filialen teilten sich je zwei Menschen mit Behinderung eine 50-Prozent-Stelle. 

«Es ist uns dabei sehr schnell bewusst geworden, wie wichtig, die positive Einstellung des Teams respektive der Teamleitung ist», sagt Florian Fertl. Die Team-Sensibilisierung habe deshalb im weiteren Projektverlauf eine wichtige Bedeutung erhalten. Weiter habe man beschlossen, dass der Integrationsbetrieb der Post die Arbeitskraft der betreffenden Menschen im Rahmen einer unbefristeten Teilzeitanstellung zur Verfügung stellt – es also nicht zu einer Festanstellung bei der Post kommt. Fertl nennt dafür zwei Gründe: «Uns fehlt das Know-how, um die fachliche Betreuung der Menschen mit Behinderung sicherzustellen. Und: Weil wir uns erstmals in einem grösseren Umfang in diesem Bereich engagieren, brauchen wir eine Rückfall­ebene.» Er will aber nicht ausschliessen, dass die Festanstellung für jene Einzelfälle, die das entsprechende Potenzial entwickeln, individuell geprüft werden kann.

Feste Anstellung nicht zwingend im Zentrum

«Der Ansatz der Post bei diesem Projekt ist nicht rein leistungsorientiert, das finde ich spannend», unterstreicht Adrian Kurzen. Er ist Leiter Dienstleistungen der Band-Genossenschaft und hat gemeinsam mit Mitarbeitenden der Post die ersten Pflöcke von «Inklusion PostNetz» eingeschlagen. Das Projekt ziele auf Menschen, so Kurzen, die das Interesse und auch das Talent haben, am allgemeinen Arbeitsmarkt teilzunehmen respektive teilzuhaben, ohne dass es aber zwingend um die Frage der beruflichen Integration gehen muss.

Das aktuelle System kenne bis jetzt, wie Kurzen feststellt, vor allem zwei Alternativen: Entweder arbeiten Menschen mit Behinderung in einem sozialen Unternehmen, oder man testet mittels befristeter Integrationsmassnahmen, ob sie das Potenzial für den allgemeinen Arbeitsmarkt haben. Es gebe aber eine ganze Reihe von Menschen mit einer Behinderung, für welche die Ablösung vom sozialen Unternehmen eher unwahrscheinlich ist, da es ihnen aufgrund ihrer Behinderung kaum möglich ist, konstant und über längere Zeit hinweg die geforderte Leistung zu erbringen. «Die Teilzeiteinsätze bei der Post, während denen die betreffenden Personen weiterhin von der Institution fachlich unterstützt werden, ermöglichen Teilhabe, ohne dass Druck ausgeübt wird.»

Dazu trage wesentlich bei, dass die Teilzeiteinsätze unbefristet seien. «Der Einsatz bei der Post wird damit nicht zu einer Art Praktikum, wo man drei Monate lang sein darf und dann wieder gehen muss, um jemand anderem Platz zu machen.» Die betreffenden Personen sollen unbefristet teilhaben können, auch wenn sie über längere Zeit keine Fortschritte in Richtung Arbeitsmarktfähigkeit machen. 

Schweizweite Umsetzung 

Aussergewöhnlich am Postprojekt ist insbesondere, dass es sich hier nicht um eine Kooperation zwischen einer Institution und einem Arbeitgeber auf lokaler oder regionaler Ebene handelt, sondern um ein schweizweites Projekt. «Mit der Post engagiert sich erstmals ein schweizweit tätiger Konzern für die Teilhabe von Menschen mit grossen Unterstützungsbedarf am allgemeinen Arbeitsmarkt.» Das sagt Annina Studer, Leiterin Arbeitswelt beim Branchenverband INSOS. Sie bringt damit die Bedeutung zum Ausdruck, die das Projekt für soziale Unternehmen und die von ihnen begleiteten Menschen hat. Die Aufgabe von sozialen Unternehmen bestehe darin, auch Menschen mit stärkeren Beeinträchtigungen, die wahrscheinlich nie eine klassische Erwerbsarbeit ausüben können, eine sinnvolle Arbeit anzubieten. «In Zusammenarbeit mit der Post können sie diesen Menschen jetzt sogar die Teilhabe am allgemeinen Arbeitsmarkt ermöglichen.»

Im Bewusstsein um die Bedeutung des Projekts haben die Verantwortlichen von PostNetz für die nationale Umsetzung eine Projektleitung eingesetzt. Zudem habe man, wie Florian Fertl festhält, der Projektleitung zwecks Beratung ein Soundingboard zur Seite gestellt. In diesem vertreten waren mit Annina Studer der Branchenverband INSOS und mehrere soziale Unternehmen. Mit an Bord waren unter anderem auch kantonale Behörden sowie Vertretende der Invalidenversicherung. 

«Als Branchenverband haben wir hier die Stimme der Integrationsbetriebe schweizweit eingebracht», sagt Annina Studer. Eine Herausforderung bestand etwa darin, die unterschiedlichen Modelle der Zusammenarbeit zwischen den Institutionen und der Wirtschaft sowie die verschiedenen kantonalen Gesetzgebungen zu berücksichtigen respektive auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. INSOS habe zudem, so Studer, zu spezifischen Fragen, wozu die Finanzierung gehörte, das eigene brancheninterne und -externe Netzwerk einbeziehen können. «Wir haben dabei auch ­bewusst die kritischen Stimmen eingeholt», wie sie betont.

Als neu bezeichnet Annina Studer weiter, dass die Post den sozialen Unternehmen einen fixen Betrag pro geleistete Arbeitsstunde der Menschen mit Behinderung in der Postfiliale zahlt. «Die Post leistet damit eine Abgeltung für den Wegfall der produktiven Leistung, den die betreffende Person im sozialen Unternehmen erbringen würde.» 
Im Verlauf der Projektarbeiten kam es immer wieder zu kontroversen Diskussionen. Diese entzündeten sich gemäss Florian Fertl an Abgeltungsfragen und an der zusätzlichen Belastung durch Betreuungsaufgaben der bestehenden Mitarbeitenden. Um solchen Befürchtungen zu begegnen, habe man denn auch, so Fertl, die Anzahl der Mitarbeitenden bis Ende 2024 vorerst auf 50 beschränkt.

Hoher sozialer Gewinn

«Inklusion PostNetz» ist nicht gratis. Für die Post entsteht ein nicht zu unterschätzender Aufwand, zum einen durch die Abgeltungen der geleisteten Arbeitsstunden, zum anderen durch die Einarbeitung und die Begleitung der Menschen mit Behinderung an ihrem Arbeitsplatz. Ein Aufwand indes, den die Post gemäss Florian Fertl in Kauf nimmt: «Wir haben dafür das Commitment der Konzernleitung.» Der Aufwand werde, wie Fertl betont, durch den «sozialen Gewinn» mehr als wettgemacht. Dies zeigen bereits die Erfahrungen aus der Projektphase. «Die Mitarbeit von Menschen mit Behinderung fördert den Teamgeist», beobachtet er. Die Rücksichtnahme habe eine höhere gegenseitige Wertschätzung innerhalb des Teams zur Folge, wodurch sich die Zusammenarbeit verbessere.
Einen Gewinn bedeutet das Projekt auch für die mitarbeitenden Menschen mit Behinderung. So habe etwa allen Mitarbeitenden der Band-Genossenschaft, die bei den Pilot­projekten mitgemacht haben, die Arbeit gut gefallen, bilanziert Adrian Kurzen. «Das Post-Gilet tragen zu dürfen, macht stolz.» Gleichzeitig bedeutete der Einsatz aber auch eine Herausforderung. Kurzen: «Einige brauchten die Erholungsphasen innerhalb der Institution, und andere kamen auch zum Schluss, dass die Einsätze für sie zu fordernd sind.» 

Annina Studer setzt auf die schweizweite Ausstrahlungskraft von «PostNetz Inklusion»: Sie bezeichnet das Projekt als die «konsequente Fortführung einer unternehmerischen Inklusionsstrategie, mit der eine weitere Inklusionslücke geschlossen wird». Und: «Ähnliche Kooperationen wie mit der Post sind auch mit anderen Firmen möglich.» Die sozialen Unternehmen und die Wirtschaft können sich damit, so Studer, im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention weiterentwickeln. 
 


Tagung: Der inklusive Betrieb

Am 21. November findet in Bern (Eventfabrik, Fabrikstrasse 12) eine nationale Tagung statt zum Thema «Der inklusive Betrieb. Arbeitgeber der Zukunft». Die Tagung richtet sich an Arbeitgebende der Privatwirtschaft und der öffentlichen Hand, an Führungskräfte und Strategieorgane von Integrationsbetrieben, an Arbeitsagoginnen und Arbeitsagogen sowie weitere Interessierte.
Gemeinsam mit den Teilnehmenden sollen folgende Fragen erörtert werden: Wie sieht unser Engagement für Diversität und Inklusion aus? Wo stehen wir heute bei der Umsetzung? Was braucht es, damit ein Betrieb zukunftsfähig inklusiv werden kann? Gibt es Best-Practice-Beispiele? Thematisiert wird auch das Projekt «Inklusion Postnetz». Zudem wird ein Self-Check präsentiert, bei dem Arbeitgebende erfahren, wie es um ihren Betrieb in Sachen Inklusion steht und welche Massnahmen sie allenfalls noch ergreifen können. Zudem findet an der Tagung die Preisverleihung des Socialstore Awards 2023 statt.
Anmeldung (bis 11. November): agenda.artiset.ch 
 


 

Foto: Schweizerische Post