SOZIALE UNTERNEHMEN | «Sozialunternehmen und die Wirtschaft miteinander verweben»

20.09.2023 Elisabeth Seifert

Übersetzungsarbeit leisten – und im Interesse der Menschen mit Unterstützungsbedarf individuelle ­Lösungen suchen. Das meint Beni Brennwald, Gründer der Grundlagenwerk AG in Wangen bei Olten, die sich der Entwicklung praxistauglicher Betriebskonzepte für soziale Unternehmen ­verschrieben hat.

 

Herr Brennwald, die Grundlagenwerk AG versteht sich als Ideenfabrik für soziale Unternehmen der Zukunft. Soziale Institutionen haben also auch künftig eine Perspektive?

Ja, ich glaube schon, und zwar gerade wegen ihrer Vergangenheit. Die soziale Arbeit hat in der Schweiz eine über 100-jährige Geschichte. In dieser Zeit ist in den Bereichen Sozialpädagogik, soziale Arbeit und Arbeitsagogik viel Know-how erarbeitet worden. Regionale und nationale Netzwerke wurden aufgebaut, und es ist inzwischen ein riesiger Erfahrungsschatz vorhanden. Wenn man zukünftig die Rechnung ohne Sozialunternehmen oder soziale Institutionen macht, dann macht man die Rechnung ohne dieses Know-how.
 

Die klassischen Sozialunter­nehmen stehen aber zunehmend unter Druck?

In einem sich wandelnden Markt hat etwas Statisches grundsätzlich wenig Zukunft, egal um welche Art von Unternehmen es sich handelt. Und ich befürchte, dass bei Sozialunternehmen die Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Anforderungen nicht überall vorhanden ist. Das Festhalten an bestimmten, einmal aufgebauten Strukturen erklärt sich allerdings auch mit dem Auftrag, den soziale Institutionen über Jahrzehnte hatten.
 

Welchen Auftrag sprechen Sie hier an?

Historisch betrachtet und vereinfacht gesagt, hat die soziale Arbeit den Auftrag, benachteiligten Personen den Zugang und die Teilhabe zur Gesellschaft zu ermöglichen. Früher wurde dies vermehrt in den pauschalen Wohn- und Arbeitszentren umgesetzt. Denn soziale Institutionen arbeiten mit Menschen in äusserst komplexen Lebenssituationen und mit herausfordernden persönlichen Schicksalen. Die damit verbundene Verantwortung ist immens. Deshalb ist es nachvollziehbar, dass sie auf langjährig gewachsene, bewährte und damit stabile ­­­Lösungen setzen. 
 

Inwiefern haben sich die Anforderungen verändert?

In den letzten Jahren kam es zu gesellschaftlichen und auch gesetzlichen Veränderungen. So kam beispielsweise die IV etwas weg von der Rente und hin zu Bemühungen, die betroffenen Personen in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Auch die Sozialhilfe setzt ­vermehrt auf Integration. Zudem sucht man anstelle von Pauschallösungen auf die spezifischen Bedürfnisse der Menschen abgestimmte individuelle Möglichkeiten, mit dem Ziel, Selbstverantwortung und Partizipation zu er­möglichen. Es braucht also zunehmend flexible und angepasste Angebote. 
 

Solche flexiblen, individuellen Lösungen bedeuten eine Herausforderung für die Institutionen …

Ja. Und es ist auch eine Entwicklung, die für die Institutionen nicht ganz konfliktfrei und auch nicht ohne Widerspruch ist. Soziale Institutionen respektive Sozialunternehmen befinden sich in einem dreifachen Spannungsfeld. Sie haben einen gesetzlichen Auftrag der Gesellschaft, einen von den betroffenen Personen sowie einen weiteren Auftrag aufgrund ihrer Profes­sion. Ich verstehe Institutionen, die Schwierigkeiten damit haben, sich in diesem Spannungsfeld zu positionieren. Ich habe aber auch Verständnis für die entsprechenden Anforderungen des Marktes, der Sozialversicherungen und für die Wünsche der betroffenen Personen. 
 

Die UN-BRK fordert sehr radikal eine De-Institutionalisierung, Teilhabe und Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Ihre Meinung?

Ich finde es immer wichtig, eine Orientierung zu haben, ein Ideal oder ein Ziel zu formulieren – auch, um dann darüber einen Dialog führen zu können. Um die Postulate der UN-BRK umzusetzen, braucht es Zeit, Differenzierungen und den Austausch zwischen den beteiligten Akteuren. Dazu gehört auch der bestehende Arbeitsmarkt. Ich denke allerdings nicht, dass der Arbeitsmarkt, so wie er heute funktioniert, die UN-BRK unmittelbar umsetzen kann. Ich könnte mir aber vorstellen, dass es möglich ist, gemeinsam den Arbeitsmarkt so zu erweitern, dass eine zunehmende Annäherung an die Forderung möglich wird. 
 

Was verstehen Sie unter dieser Erweiterung des Arbeitsmarktes?

Wir müssen uns zunächst darüber klar werden, worum es grundsätzlich geht. Die Fachpersonen der beruflichen Integration können betroffene Personen dabei unterstützen, sich den Anforderungen des Marktes anzunähern. Gleichzeitig kann der bestehende Markt vermehrt Arbeitsplätze an die Voraussetzungen der Personen anpassen. Ich glaube allerdings, wir brauchen auch neue Formen von Dienstleistungen, neue Branchen und neue Betriebskonzepte, die von einer inklusiven Gesamtgesellschaft abgeleitet sind und von allen Menschen aktiv mitgestaltet werden. 
 

Sind Unternehmen im allgemeinen Arbeitsmarkt bereit dazu, solche Ideen zu unterstützen?

Den Vorwurf, dass der allgemeine Arbeitsmarkt keinen Beitrag leisten will, hinterfrage ich. Der Arbeitsmarkt ist aus meiner Sicht in erster Linie ungenügend informiert. Es braucht also im Kern keine gesetzlichen Leistungen wie Quotenregelungen oder andere regulierende Massnahmen. Gefragt ist vielmehr eine edukative Leistung, welche wiederum die sozialen Institutionen erbringen können. 
 

Was verstehen Sie unter dieser edukativen Leistung der Institutionen?

Ein Beispiel für das Interesse des allgemeinen Arbeitsmarktes ist die Schweizerische Post. Dort werden aktuell Möglichkeiten zur Teilhabe und zur beruflichen Integration geschaffen. Eine Voraussetzung dafür ist, dass die Unterstützungsleistungen in die Wirklichkeit der Unternehmen übersetzt werden können. Dabei geht es darum, die Bedürfnisse der Betroffenen mit der Realität der Arbeitgebenden in Einklang zu bringen.
 

Wie gelingt den Sozialunternehmen eine solches Übersetzungsleistung? 

Das ist ein sehr individueller Prozess, der die spezifischen Möglichkeiten der einzelnen Betriebe berücksichtigen muss. Und die Sozialunternehmen müssen ihrerseits prüfen, welche Kompetenzen sie haben, auch wie und mit welchen Partnern sie die Übersetzungsarbeit leisten können.
 

Können Sie diese Übersetzungsleistung konkretisieren?

Der wachsende Markt an Jobcoaching-Angeboten erbringt beispielsweise eine solche Leistung. Im Kanton Aargau etwa haben mehrere Sozialunternehmen gemeinsam die Learco ins Leben gerufen, um Betroffene und Arbeitgebende gleichermassen zu unterstützen. Oder es gibt soziale Institutionen, die Gebäude kaufen, um einen Teil davon an Betriebe des allgemeinen Arbeitsmarktes vermieten. Ein solches Beispiel ist das Mehrwerk Uster. Das soziale Unternehmen operiert auf diese Weise inmitten anderer Betriebe. Dadurch gibt es einen Rollenwechsel und es entsteht ein niederschwelliger Zugang zu neuen Möglichkeiten der Inklusion. Oder das, was wir über die Grundlagenwerk AG soeben gestartet haben: Inmitten der After Sales Logistik von Digitec Galaxus im aargauischen Dintikon betreiben wir seit Kurzem das Projekt Restwert.
 

Sie integrieren damit einen Standort des vor einigen Jahren gegründeten Projekts zur beruflichen Integration direkt in einen grossen Betrieb des allgemeinen Arbeitsmarktes?

Genau. Das Projekt Restwert, das den kompletten Aufwand beim Verkauf gebrauchter Artikel auf einer Online-Handelsplattform übernimmt, ist damit erstmals direkt innerhalb eines Betriebes integriert. Unser Betriebsleiter ist zudem jemand, der vorher bei Digitec Galaxus gearbeitet hat. Wir verweben damit die Kompetenzen und Aufgaben so gut es geht, um die Schwelle zwischen dem vermeintlichen zweiten und ersten Arbeitsmarkt ­tatsächlich auf eine Türschwelle zu reduzieren. Die Personen können je nach Bedürfnis und Fähigkeit im Integrationsbetrieb arbeiten oder direkt im allgemeinen Arbeitsmarkt. 
 

Sie mussten hierfür sicher einige Übersetzungsarbeit leisten? 

Digitec Galaxus hat, wie die meisten Firmen, begrenztes Know-how im Bereich der beruflichen Integration, aber ein hohes Interesse, einen Beitrag zur Inklusion zu leisten. Wir, als Sozialunternehmen, haben dieses Know-how, die Erfahrung, die regionale Vernetzung mit anderen Arbeitgebenden, mit Fachpersonen aus dem Gesundheitswesen und mit den Sozialversicherungen. Diese Ressourcen sind über Jahrzehnte gewachsen. Daran müssen wir anknüpfen. Hier treffen zwei Disziplinen mit jeweils eigenem Erfahrungshintergrund aufeinander, und es geht darum, einander zu verstehen.
 

Innovativ am Projekt Restwert ist ganz besonders auch, dass dieses mittels Social Franchising rasch und unkompliziert an vielen Standorten umgesetzt werden kann. Wie kam es dazu? 

Gestartet ist das Projekt Restwert 2016, als zunächst verworfene Idee in einer Schublade. Damals war ich noch Geschäftsleitungsmitglied in einer sozialen Institution im Raum Olten. In Gesprächen mit anderen Sozialtätigen ist mir aufgefallen, dass viele Institutionen die gleichen Fragen beschäftigen. Wir alle brauchen Betriebskonzepte, die eine realistische Arbeit ermöglichen, um Menschen zu qualifizieren. Zudem müssen diese Konzepte rentabel sein, auch innerhalb des wandelnden Sozialversicherungsmechanismus. Und sie müssen relevant sein, um eine sinnvolle Arbeit zu ermöglichen. 
 

Und weshalb haben Sie gerade das Social-Franchising-Konzept gewählt?

Mein Ziel war es nicht, einfach ein weiteres Start-up zu gründen, sondern ein Konzept zu entwickeln, das auch andere brauchen können. Wir haben ja, wie gesagt, alle die gleichen Fragen und Probleme. Das Projekt Restwert war deshalb von Anfang so ausgerichtet, dass man es einfach kopieren kann. Es ist auf einen regionalen Wirkungskreis ausgerichtet. Alle Prozesse sind allgemein gehalten, sodass die Institutionen diese auf ihre eigene Art interpretieren können. Wir haben das Konzept während mehrerer Jahre getestet und immer wieder Anpassungen vorgenommen, bis es wirklich funktioniert hat. 
 

Wie kam es 2018 zur Gründung der Grundlagenwerk AG?

Wir brauchten eine Rechtsform, um die Multiplikation des Konzepts zu koordinieren, ohne dass ein Machtgefälle entsteht. Wir haben deshalb den Standort von Projekt Restwert in Wangen an die Institution Zugpferd GmbH auf unserem Gelände weitergegeben und das Grundlagenwerk gegründet. Dieses ist in der Integration nicht operativ tätig, sondern vergibt die Lizenzen und ist zuständig für die fortlaufende Aktualisierung des Konzepts. Mittlerweile haben Institutionen aus der ganzen Schweiz über 20 solcher Betriebe erfolgreich aufgebaut.
 

Wie erklären Sie sich diesen Erfolg? 

So gut sind wir vermutlich auch wieder nicht, und ich fürchte, unser Erfolg ist auch ein Hinweis darauf, wie gross das Vakuum im Bereich markttauglicher Betriebskonzepte ist. Die Branche verbessert sich aber laufend. Trotzdem denke ich, sind wir ein gutes Beispiel dafür, was funktionieren könnte, wenn verschiedene Disziplinen in einen Dialog treten: An der Entwicklung des Betriebskonzeptes war nebst Vertretenden der Sozialversicherungen und des Arbeitsmarktes auch eine betroffene Person aus einer beruflichen Massnahme beteiligt, welche später die Betriebsleitung innehatte. 
 

Der Zusammenarbeit unter verschiedenen Akteuren hat sich gerade auch das Projekt «Parexemple» verschrieben, das von Ihnen respektive vom Grundlagenwerk koordiniert wird …

Es handelt sich hierbei um eine interdisziplinäre Gruppe mit Vertretenden aus der Sozialbranche und der Privatwirtschaft. Diese Gruppe hat sich ursprünglich den Auftrag gegeben, einen Beitrag zur beruflichen Integration zu leisten. Dabei überlegen wir uns, wie man mit möglichst wenig Aufwand viel bewirken kann. Wir kamen zum Schluss, dass wir die Sichtbarkeit von Innovationen und Best-Practice-Beispielen erhöhen müssen. Der Projektname «Parexemple» meint eigentlich nichts anderes als aufzuzeigen, was bereits gemacht wird. Das eigentliche Problem besteht unserer Meinung darin, dass die Akteure oft schlicht nicht wissen, was auf diesem Gebiet bereits gemacht wird. Auch hier geht es wieder um eine edukative Leistung. Zurzeit prüfen wir, in welcher Form diese erbracht werden kann. 
 

Wer ist in dieser interdisziplinären Gruppe dabei?

Wir haben unter anderem Vertretende der Post und von Digitec Galaxus mit dabei sowie Vertretende von sozialen Institutionen, Fachhochschulen und Sozialversicherungen. Um etwas bewegen zu können, braucht es eine möglichst ausgeglichene Vertretung des allgemeinen Arbeitsmarktes und der Sozialbranche. Zudem versuchen wir auch, Vertretende aus Politik und Verwaltung zu gewinnen. 
 

Empfinden Sie die Rahmenbedingungen der Sozialbranche als innovationshemmend? 

Nein. Innovation geht nicht von Rahmenbedingungen aus. Die Wirtschaft, die Sozialbranche, die Behörden und die Versicherungen: Wir leben alle ­­­in unserer eigenen Wirklichkeit. Es scheint mir wichtig, dass wir miteinander reden und gemeinsam nach Lösungen suchen. Es macht keinen Sinn, nach Schuldigen zu suchen. Vonseiten der Sozialbranche müssen wir auch gegenüber den Behörden und den Versicherungen eine edukative Leistung erbringen. Klar wünschte ich mir manchmal, dass wir raschere und auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnittene Finanzierungslösungen finden könnten. Wir machen aber die Erfahrung, dass man die staatliche Logik gut auch etwas biegen kann, wenn es gelingt, eine gemeinsame Haltung und Sprache zu finden. 
 


Unser Gesprächspartner

Beni Brennwald, Jg. 1985, ist unter anderem gelernter Grafiker, Sozialpädagoge und hat ein Studium in Betriebswirtschaft gemacht. Er hat etliche Start-ups realisiert sowie Netzwerke mit aufgebaut und arbeitet in verschiedenen Gremien der Sozialbranche mit. Nach langjähriger Aufbauarbeit in einer sozialen Institution hat er 2016 das Projekt Restwert lanciert, 2018 die Grundlagenwerk AG und 2020 die Zugpferd GmbH gegründet. 

Die Grundlagenwerk AG

Als gemeinnützige Aktiengesellschaft 2018 in Wangen bei Olten gegründet, hat die Grundlagenwerk AG das Social Franchising in der Sozialbranche etabliert. Aushängeschild dafür ist das Projekt Restwert, das mittlerweile in der ganzen Schweiz an über 20 Standorten von sozialen Institutionen umgesetzt wird. «Restwert» richtet sich an Menschen mit Eingliederungspotenzial im kaufmännischen Bereich. Es übernimmt den kompletten Aufwand beim Verkauf gebrauchter Artikel auf einer Online-Handelsplattform. Ebenfalls mittels Social Franchising geht mit «Fundpark» demnächst ein weiteres Projekt an den Start, das sich an Menschen mit Eignung im Bereich Mediamatik richtet. Das Grundlagenwerk erbringt zudem Beratungsleistungen, organisiert Tagungen und hält Referate zum Thema der sozialen Innovation.
 


 

Foto: esf