Den Flickenteppich professionell zusammenfügen

13.12.2023 Claudia Weiss

Das Ziel des Projekts «Pflegekinder – next generation» ist klar: die Situation der Pflegekinder schweizweit verbessern und einheitlich regeln. Der Weg führt seit 2018 via ein ­Vorprojekt über diverse Studien und Anlässe für offene Dialoge. Soeben wurden die ersten Erkenntnisse präsentiert. Gestützt auf diese werden in den nächsten Jahren ­Mass­nahmen und Empfehlungen erarbeitet.

Wird Projektleiterin Judith Bühler gefragt, warum das Projekt «Pflegekinder – next generation» überhaupt entstanden ist, überlegt sie nicht lange: «Ausgangslage und Bedarf waren völlig klar: Die Familienpflege ist ein sehr ­gutes Setting für viele Kinder und Jugendliche. Sie ist aber auch eine grosse Herausforderung für alle Beteiligten.» Umso mehr gelte es, gut hinzuschauen: «Wir wollen nicht später sehen müssen, was man versäumt hat!» Denn wie gut es den Pflegekindern heute wirklich gehe, wisse man nicht: «Das wurde bisher nicht genau erforscht.» Diese Lücke wollte die Palatin-Stiftung schliessen und endlich wissen, was eigentlich Sache ist: Nicht nur wird die Anzahl von Pflegeverhältnissen von Kanton zu Kanton unterschiedlich erhoben, sondern auch die rechtlichen Regelungen, die Begleitung der Pflegefamilien und die Handhabung der Partizi­pierungsmöglichkeiten von Pflegekindern sind bis anhin ­uneinheitlich geregelt. «Die Situation ist lückenhaft und unsystematisch», fasst Judith Bühler zusammen. 

Zwar umschreibt beispielsweise Artikel 2 der Pflegekinder­verordnung (PAVO) klar, welche Rechte Pflegekinder haben: «Die Kindesschutzbehörde sorgt dafür, dass das Kind, das in einer Pflegefamilie oder in einem Heim betreut wird a) über seine Rechte, insbesondere Verfahrensrechte, entsprechend seinem Alter aufgeklärt wird; b) eine Vertrauensperson zugewiesen erhält, an die es sich bei Fragen oder Problemen wenden kann; c) an allen Entscheidungen, die einen wesentlichen Einfluss auf sein Leben haben, entsprechend seinem Alter beteiligt wird.» Besonders die Punkte «Vertrauens­person» und «Beteiligung» würden aber in der Praxis je nach Kanton oder sogar nach Gemeinde völlig unterschiedlich interpretiert, erklärt Judith Bühler: Unklar sei beispielsweise bereits, ob Pflegefamilien generell sozialpädagogisch begleitet werden müssten. Oder auch, ob die genannte Vertrauens­person aus dem familiären Umfeld kommen dürfe, oder ob das eine Fachperson sein müsse. «Dass da eine Professionalisierung nottat, war in Fachkreisen völlig unbestritten.» 

Die Palatin-Stiftung, vom Verein Pflegekinder und Adop­tiv­kinder Schweiz PA-CH um Stiftungsgelder angefragt, war deshalb rasch überzeugt: Sie sprach eine stattliche Summe und setzte Judith Bühler als Projektleiterin ein, um das ­Projekt zu planen und die damit verbundenen Prozesse zu leiten und zu bündeln. Bühler mit ihrem Hintergrund eignet sich gut für diese Position, sie berät unter anderem Insti­tutionen im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsbereich, und sie hat praktische Erfahrung in der stationären Kinder- und Jugendhilfe wie auch Verwaltungserfahrung. 

Über Sprachgrenzen hinweg laufendes Projekt

In einer ersten Phase «Planung» startete Judith Bühler 2018 gemeinsam mit der PA-CH und Integras (Fachverband ­Sozial- ­und Sonderpädagogik) ein Vorprojekt, analysierte, welches die dringlichsten Themen sind, und setzte die Schwerpunkte. Parallel dazu wurde eine Projektgruppe gegründet mit Fachleuten von Integras sowie der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK), der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (KOKES), dem Bundesamt für Sozialversicherungen BSV und drei Verantwortlichen der Stiftung Palatin. Als begleitender Experte wurde Klaus Wolf, emeritierter Professor von der Universität Siegen D, angefragt. «Von Anfang an stand fest, dass das Projekt über die Sprachgrenze hinaus laufen muss», erklärt Judith Bühler: «Am Ende soll ja etwas herauskommen, das diesen Flickenteppich zusammenfügt und für die Praxis schweizweit anwendbar ist.» Deshalb galt es, übergeordnete Ziele mit drei Hauptpunkten zu verfolgen: 

  • Wissen und Handlungssicherheit in der Pflegekinderhilfe erweitern 
  • Strukturen stärken, die den Pflegekindern uneingeschränkte Teilhabe ermöglichen und ihnen bestmö­glichen Schutz gewähren 
  • das Verständnis rund um Pflegeverhältnisse in der Gesellschaft verbessern. 

«Das sind hochgesteckte Ziele, und sie sollen im Projekt vor allem als Richtschnur dienen», sagt die Projektleiterin. Die Projektgruppe hat deshalb die Themen für drei Studien bestimmt, die ausgeschrieben wurden: «Partizipation von Pflegekindern», «Gute Begleitung von Pflegeverhältnissen» und «Vergleich von kantonalen Strukturen». Beteiligt sind unter anderem die Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW), die Zürcher Fachhochschule für angewandte Wissen­schaften (ZHAW), die Haute école de travail social Fribourg (HETS FR) und die Haute école de travail social Genève (HETS GE), «Das hat allen viel abverlangt», sagt Judith Bühler heute im Rückblick. Es sei nicht immer ganz einfach gewesen, alle Interessen unter einen Hut zu bringen: «Die Forschenden wollen wissenschaftlich publizieren, ­Palatin hingegen will Forschungsergebnisse, die sich in der Praxis anwenden lassen. Und ausserdem mussten sich die Forschungsteams trilingual verständigen.» 

Erwartung: Umfassende und fundierte Analyse

In den letzten drei Jahren fanden zusätzlich zu den drei pa­ral­lelen Studien auch mehrere Anlässe zum intensiven Dialog mit Beteiligten sowie zum Fachaustausch statt. Die Anlässe zielten auf diverse Gruppen ab. 2021 beispielsweise war ein breites Publikum aus interessierten Kreisen angesprochen, während letztes Jahr der Anlass berufsgruppenspezifisch orga­nisiert wurde und sich an Verwaltungsstellen, Kesb und Sozial­dienste, die Dienstleistungsanbietenden in der Familien­pflege sowie an die Wissenschaft richtete.

Die Erkenntnisse aus den verschiedenen Tagungen sowie der Dialoggruppen – formuliert von Fachleuten aus der Praxis – wurden in das Fazit mit einbezogen. Ein Podcast zum Thema, der im ersten Projektjahr angelaufen war, kann zwar immer noch gehört werden (siehe QR-Code), aber inzwischen sei dieses Format ausgeschöpft, sagt Bühler. «Stattdessen hat sich gezeigt, dass es wichtig ist, vermehrt Careleaverinnen und Careleaver mit einzubeziehen.» Am diesjährigen Anlass nahm beispielsweise Gael Plo vom Careleaver Netzwerk Basel teil. «Ich erwarte vom Projekt eine umfassende und fundierte Analyse des aktu­el­len Pflegekindersystems in der Schweiz», liess er sich in einer Medienmitteilung zur Tagung zitieren. «Von zentraler Bedeutung ist es, die Perspektiven und Erfahrungen der Pflege­kinder selbst in den Mittelpunkt zu stellen, um sicherzustellen, dass ihre Bedürfnisse und Anliegen angemessen berücksichtigt werden.» Die Careleaver seien deshalb zu wichtigen Ansprechpartnerinnen und -partnern für das ­Projekt geworden, sagt Judith Bühler.

«Die Familienpflege ist ein sehr gutes Setting für viele Kinder und Jugendliche. Sie ist aber auch eine grosse Herausforderung für alle Beteiligten.»
Judith Bühler

Mit dem Abschluss der Phase II «Forschung und Dialog» kommt das Projekt jetzt in das letzte Drittel: Mitte November wurden die Ergebnisse aus drei Jahren Studien an der Projekttagung präsentiert (siehe Kasten). «Die drei Studiengruppen hatten den Auftrag, ihre Ergebnisse in jeweils drei thematischen Aussagen zusammenzufassen», erklärt Judith Bühler. Die Veranstaltung lief unter dem Motto «Keine ­P­raxis ohne Forschung – keine Forschung ohne Praxis»: Es müsse ein Dialog auf Augenhöhe stattfinden, hatte sie im Vorfeld klargestellt, nicht einfach eine Forschungspräsen­tation. «Tatsächlich geht es nicht um eine Grundlagenforschung, sondern um qualitative Forschung, die Antworten auf gewisse Fragen bietet.»

Viel Nachholbedarf bei Pflegeverhältnissen

Einige Resultate seien nicht überraschend, findet sie: «Dass der Einbezug von Herkunftsfamilien und der Umgang mit Loyalitätskonflikten enorm wichtig sind, weiss man in der Sozialpädagogik und im institutionellen Kontext schon seit 30 Jahren – bei Pflegeverhältnissen gibt es hier noch viel Nachholbedarf.» Die Studien hätten jetzt aber solche ­Annahmen klar belegt und dienten künftig als fachliche Grundlagen, auf die sich auch der Bundesrat bei einer ­möglichen Revision der Pflegekinderverordnung stützen könne. Auch in der Praxis habe sich längst gezeigt, dass Fachlichkeit ein sehr erfolgversprechendes Modell sei: «Während in den Insti­tutionen qualitative Mindeststandards wie beispiels­weise der Stellenplan und anderes unbestritten sind, gilt ­dies für Pflegeverhältnisse noch viel zu wenig – dabei geht es um dieselben Kinder!» 

«Insgesamt erhoffe ich mir, dass die Ergebnisse dieser Studien konkrete Handlungsempfehlungen liefern werden.» 
Gael Plo vom Careleaver Netzwerk Basel 

In den nächsten drei bis fünf Monaten wird die Projekt­gruppe als Phase III die Konsequenzen aus den Ergebnissen ziehen und die Eckwerte für ein Folgeprojekt festlegen. Die Palatin-Stiftung lanciert danach eine Ausschreibung dazu. Die Frage könne unter anderem sein, wie sich die Pflegekinderhilfe in die Jugendhilfe einordnen lässt und wie man den Dschungel von Instanzen überblickbarer gestalten kann. Wichtig, sagt Judith Bühler, sei unter anderem Klarheit darüber, ob man die Pflegefamilie ins Zentrum stelle oder die Pflegekinder – und dass man ganz generell die Pflege­familien als eine mögliche Familienform anerkenne und damit akzeptiere: «Der Schutz der Pflegekinder ist Aufgabe der Gesellschaft und des Staates.» Als Beispiel für eine gute Begleitung der Herkunftsfamilien nennt sie den ­Kanton Genf, in dem je eine Instanz für den Kindesschutz, eine für die Begleitung der Herkunftsfamilien und eine für die ­ufsicht von Pflegefamilien zuständig ist. «Gibt es Konflikte, werden diese von den zuständigen Ämtern untereinander auf professioneller Ebene verhandelt.» Eine solche Be­tei­li­gung und Koordination von Fachleuten mit einem ­soliden Fallmanagement könnten in Zukunft zentral werden, sagt sie. Und die Ergebnisse des Projekts könnten helfen, ­die Definition von sozialpädagogischen Prozessen und ­Standards voranzutreiben. 

Careleaver Gael Plo jedenfalls erwartet von den Studienresultaten eine grosse Wirkung für die «next generation». Für ihn steht fest: «Insgesamt erhoffe ich mir, dass die Ergebnisse dieser Studien konkrete Handlungsempfehlungen liefern werden, um das Leben von Pflegekindern in der Schweiz zu verbessern und ihnen eine stabilere und unterstützende Umgebung zu bieten.» 
 


Die zukunftsweisenden Aussagen

Studie «Vergleich von kantonalen Strukturen»

  • Pflegekinder stehen bisher nicht im Fokus. Hier braucht es Mindeststandards wie bei den Heimkindern. 
  • Konkrete Ideen zur Verbesserung der Situa­tion sind gefragt. 
  • Zum Beispiel: Wie soll die Aufsicht über die Pflegeverhältnisse gemacht werden? Wie kann ein solides Fallmanagement sichergestellt werden? Welche Fach- und Sachmittel sollen den Pflegeeltern zur Verfügung gestellt werden? 

Studie «Gute Begleitung von Pflege­verhältnissen»

  • Es zeigt sich, dass die Herkunftseltern als wichtiger Teil von Pflegeverhältnissen insgesamt wenig mitbedacht und begleitet werden. 
  • Für ein erfolgreiches Pflegekinderverhältnis müssen die Pflegekinder und alle Mitglieder in der Pflegefamilie gut unterstützt und begleitet werden. 
  • Vorbildlich hält der Kanton Genf den Blick auf alle Seiten offen. 

Studie «Partizipation von Pflegekindern»

Der partizipative Einbezug von Pflege­­kindern ist auf drei Ebenen wichtig: 

  • bei Entscheidungen, welche die Pflegekinder massgeblich betreffen (beispielsweise Zuweisung zu einer bestimmten Pflegefamilie) 
  • im Lebensalltag der Familie(n) 
  • während und nach Krisensituationen und wenn es darum geht, Lösungen zu finden und weitere wichtige Entscheidungen zu treffen. 

Die Partizipation des Kindes muss in jeder Phase gewährleistet werden, und es gibt Ideen, wie man diese Partizipation stärken kann.


 

Photo: Costas Maros