«Kokain – die Elitedroge ist im Volk angekommen»
Kokain war einst die Droge der Künstler und Manager – heute ist sie mitten in der Gesellschaft angekommen. Frank Zobel, Vizedirektor von «Sucht Schweiz»*, erklärt, warum der Konsum zunimmt, welche Risiken unterschätzt werden und weshalb Prävention bei Kokain besonders sensibel ist.
Herr Zobel, Kokain galt früher als Droge der Ärzte, Künstler und Manager. Heute scheint es auch in breiteren Bevölkerungsschichten angekommen zu sein. Deckt sich das mit Ihrer Beobachtung?
Ja, das entspricht durchaus der Realität. Kokain wird heute in sehr unterschiedlichen Milieus konsumiert – nicht nur in der «oberen Gesellschaft». Auch Menschen im Transportwesen, im Gastgewerbe oder auf dem Bau greifen dazu. Allerdings wissen wir nicht genau, ob das frühere Bild – dass es vor allem eine Elitedroge war – überhaupt richtig war. Sicher ist: Heute erreicht Kokain breite Bevölkerungsgruppen. Ein Grund dafür ist der Preis. Kokain ist so günstig wie nie. Eine Dosis von etwa 0,2Gramm kostet heute auf der Strasse in Lausanne rund zehn Franken. Gleichzeitig ist der Reinheitsgrad gestiegen – von 40 bis 50 Prozent vor zehn Jahren auf heute 70 bis 90Prozent. Das hat mit der massiv gestiegenen Produktion in Lateinamerika zu tun. In Europa werden jedes Jahr rund 400 Tonnen Kokain sichergestellt.
Wer konsumiert heute am häufigsten – gibt es typische Altersgruppen oder Milieus, die besonders auffallen?
Am häufigsten konsumieren junge Erwachsene zwischen 18 und 35 Jahren. Das zeigen die Gesundheitsbefragungen, die alle fünf Jahre durchgeführt werden. Diese Daten sind allerdings mit Unsicherheiten behaftet, weil viele ihren Konsum nicht angeben. Grob unterscheiden wir drei Gruppen: erstens drogenabhängige Menschen in prekären Lebenslagen, die häufig konsumieren. Zweitens sozial und beruflich integrierte Personen, die Kokain als eine Art «Doping» einsetzen – um leistungsfähiger, konzentrierter oder belastbarer zu sein. Und drittens die Freizeitkonsumierenden, die es gelegentlich in geselligen Momenten nehmen. Etwa 80 Prozent gehören zu dieser letzten Gruppe. Aber gemessen an der konsumierten Menge ist es umgekehrt: Die wenigen, die regelmässig konsumieren, verbrauchen den Grossteil des Kokains.
Was macht die Droge für diese Bevölkerungsschichten so attraktiv?
Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Hauptgründe: zum einen die hedonistische Seite – Kokain macht euphorisch, man fühlt sich wach, stark und selbstbewusst. Zum anderen die funktionale Seite: Viele nutzen es, um durchzuhalten, konzentrierter zu arbeiten oder besser zu performen. Dazu kommen Menschen, die damit psychische Belastungen kompensieren – etwa Stress oder Erschöpfung. Meist spielen mehrere Motive gleichzeitig eine Rolle.
Einige Ärztinnen und Ärzte sagen, Kokain steigere kurzfristig Fokus und Selbstvertrauen. Stimmt das?
Ja, das stimmt. Kurzfristig kann Kokain tatsächlich Konzentration und Leistungsfähigkeit erhöhen. Aber der Preis dafür ist hoch. Denn mit zunehmendem Konsum wächst das Risiko, abhängig zu werden. Wie schnell das passiert, ist individuell – bedingt von der biologischen Veranlagung, der psychischen Stabilität und dem sozialen Umfeld. Es gibt keine klaren Grenzen zwischen «kontrolliertem» und problematischem Konsum.
Wie schnell kann sich eine Abhängigkeit entwickeln – und welche Warnzeichen gibt es?
Das ist sehr unterschiedlich. Warnzeichen sind etwa, wenn jemand zunehmend konsumiert, Gelegenheiten dazu sucht oder auf andere Aktivitäten verzichtet, um zu konsumieren. Dann ist viel Vorsicht geboten.
Die Abhängigkeit von Kokain hat ihren Preis. Welche Schäden verursacht regelmässiger Konsum?
Kokain ist eine hochriskante Droge. Sie wirkt toxisch auf das Herz-Kreislauf-System und kann zu Herzrhythmusstörungen, Bluthochdruck oder Herzinfarkten führen. Psychisch kann sie Depressionen, Angstzustände oder Psychosen auslösen. Nach dem Rausch folgt häufig ein starker Stimmungseinbruch – das kann zu Nachkonsum führen, um das Tief auszugleichen. So entsteht ein Teufelskreis.
Und was passiert im sozialen oder beruflichen Umfeld – wann fliegt ein jahrelanger Konsum auf?
Oft bleibt der Konsum lange unbemerkt. Viele Betroffene führen über Jahre ein funktionierendes Leben – bis irgendwann die Kontrolle verloren geht. Typisch sind Scheidungen, Verluste von Freunden sowie Einsamkeit, finanzielle Probleme, leere Bankkonten, zusätzliche Hypotheken. Wer regelmässig konsumiert, braucht Geld – und nicht selten wird das zum zentralen Lebensinhalt.
Wenn der Konsum zunimmt, dann dürfte es nicht allzu schwierig sein, an Kokain heranzukommen?
Wie leicht ist die Droge heute in der Schweiz erhältlich? Sehr leicht. Das Verhältnis von Preis zu Qualität ist derzeit einmalig. Die Verfügbarkeit ist enorm gestiegen, und es gibt viele Kanäle – auch ausserhalb der klassischen Drogenszene.
Spielt dabei der Onlinehandel eine wachsende Rolle?
Ja, aber hauptsächlich bei sozial integrierten Konsumierenden. Noch ist der Anteil eher klein, aber er steigt. Die Polizei kann zwar einen Teil der Angebote aufspüren, doch das betrifft nur einen Bruchteil des Markts. In der Waadt beispielsweise werden schätzungsweise nur 8 bis 10 Prozent der Kokainmenge beschlagnahmt. Der Rest wird konsumiert.
Zwar ist der Reinheitsgrad von Kokain gestiegen, wie Sie oben ausgeführt haben. Dennoch wird die Droge nie ganz rein verkauft. Welche Risiken birgt das?
Der sogenannte Verschnitt kann gefährlich sein. Früher wurde häufig Phenacetin, Lidokain und Levamisol – ein Tierarzneimittel, das unter anderem Hautprobleme verursachen kann – beigemischt. Heute findet man neue Stoffe wie Prokain. Diese Substanzen verstärken manchmal die Wirkung, sind aber gesundheitlich bedenklich. Auch Koffein ist ein gängiges Streckmittel.
Kann grundsätzlich jede und jeder abhängig werden – oder gibt es Menschen mit einer besonderen Suchtveranlagung?
Prinzipiell kann jeder Mensch abhängig werden. Es gibt zwar Risikofaktoren wie genetische Disposition oder psychische Belastungen, aber entscheidend ist auch das Umfeld: Welche Erfahrungen jemand mit Substanzen macht und in welchem sozialen Kontext er lebt.
Bei Alkohol oder Tabak ist Prävention Alltag. Müsste man nicht auch bei Kokain konsequent auf Prävention setzen?
Und wie sieht diese aus? Bei Alkohol oder Tabak kann man breite Kampagnen führen, weil fast alle einen Bezug dazu haben. Bei Kokain wäre das kontraproduktiv – man würde eher riskieren, Neugier zu wecken. Darum arbeitet man gezielt in bestimmten Milieus, zum Beispiel im Nachtleben oder bei manchen Risikoberufen. In der Schule geschieht Prävention meist ganz allgemein, mit Fokus auf Lebenskompetenzen.
Unser Gesprächspartner
Frank Zobel ist Vizedirektor und Co-Leiter der Forschungsabteilung von Sucht Schweiz. Der Sozialwissenschaftler forscht seit vielen Jahren zu Drogenpolitik, Konsumtrends und Präventionsstrategien. Sucht Schweiz ist die nationale Kompetenzstelle für Suchtfragen mit Sitz in Lausanne
Kokain auf einen Blick
Wirkstoff: Kokainhydrochlorid, gewonnen aus den Blättern des Cocastrauchs. Wirkung: Erhöht Dopamin, Noradrenalin und Serotonin im Gehirn. Dies führt zu Euphorie, gesteigertem Selbstbewusstsein, Wachheit und einem verminderten Schlafbedürfnis. Risiken: Herz-Kreislauf-Probleme, psychotische Episoden, Depressionen, starke psychische Abhängigkeit. Nachweiszeit: Im Urin 2 bis 3 Tage, im Haar bis zu 90 Tage. Konsumformen: Meist geschnupft und in Kombination mit Alkohol konsumiert, zunehmend auch geraucht («Crack») oder injiziert. Einige Zahlen:
- Rund 6,2 Prozent der Bevölkerung haben laut Suchtmonitoring Schweiz schon einmal Kokain konsumiert, etwa 1 Prozent im letzten Jahr.
- Die Dunkelziffer liegt sicher höher.
- Anzeichen von einem steigenden Konsum bei 20 bis 40-Jährigen, vor allem in urbanen Regionen.
Foto: Olivier Wavre