MENSCHENRECHTE | Kinderrechte in der Praxis umsetzen

13.05.2025 Salomé Zimmermann

Zwischen den Rechten der Kinder und denjenigen der Eltern zu navigieren, ist eine Gratwanderung, wie Corinne Stöckli vom Kinderheim Titlisblick in Luzern erzählt. In der Sozialpädagogik-Ausbildung geht es um die Entwicklung einer eigenen professionellen Haltung, sagt Marc Freivogel von der HFGS Aarau. Die neue Online-Plattform «kidlex» bildet mit ihrem Chatbot eine wertvolle Ergänzung bei Themen rund um die Kinderrechte.

Kinderrechte sind dazu da, Kinder und Jugendliche vor Missbrauch, Gewalt und Vernachlässigung zu schützen. Sie fördern den Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung, was für die körperliche und geistige Entwicklung der Kinder entscheidend ist. Durch die Umsetzung von Kinderrechten wird auch die Partizipation der Kinder gestärkt. Dies fördert ihre Selbständigkeit und ihr Verantwortungsbewusstsein. Darüber hinaus unterstützen Kinderrechte die Chancengleichheit. Zusammengefasst setzen sich die Kinderrechte aus den folgenden fünf Dimensionen zusammen: Neben dem Kindesinteresse als vorrangiges Prinzip gehören dazu das Recht auf Partizipation, das Recht auf Schutz, das Recht auf Entwicklung und Förderung sowie das Recht auf diskriminierungsfreies Aufwachsen.

Information der Kinder

Fachpersonen müssen die Kinderrechte in ihrem Berufsalltag umsetzen und stossen damit positive Entwicklungen bei den Kindern an. Wie das in der Praxis funktioniert, erläutert Corinne Stöckli vom Kinderheim Titlisblick in Luzern. Dort leben 28 Kinder aus der ganzen Innerschweiz, verteilt auf vier Wohngruppen. Corinne Stöckli ist Gruppenleiterin einer dieser Wohngruppen im Titlisblick, wo Kinder ab dem Säuglingsalter bis ungefähr sieben Jahre betreut werden. Spielen die Kinderrechte denn in ihrem Alltag überhaupt eine Rolle? «Die Kinderrechte sind sozusagen die Basis unserer Existenz», sagt Corinne Stöckli. Da alle Kinder ein Recht auf Schutz und Entwicklung haben, werden Kinder, deren Eltern und Bezugspersonen das zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht gewährleisten, auf Antrag der KESB ins Kinderheim gebracht. Zusammen mit den Eltern, allfälligen Beiständen und den Behörden schauen die Mitarbeitenden des Kinderheims, dass die Kinder sich gut entwickeln können und dass sie, sobald eine passende stabile Anschlusslösung möglich ist, zurück zu den Eltern oder in ein anderes Setting, wie etwa eine Pflegefamilie, wechseln. Die Anschlusslösungen werden sorgfältig aufgegleist, denn «Kinder sollen nicht zum Spielball der Erwachsenen werden», so Corinne Stöckli. Richtschnur dabei ist stets die Frage, was im Interesse des Kindes ist. «Wir vertreten die Sicht der Kinder und setzen uns anwaltschaftlich für sie ein», so Corinne Stöckli. Es ist ihr und ihren Mitarbeitenden wichtig, die Kinder zu informieren – sie sollen wissen, warum sie sich für eine gewisse Zeit im Titlisblick aufhalten, sie sollen aber auch wissen, was sie erwartet. Laut Corinne Stöckli bedeutet der Alltag ein ständiges Ausbalancieren zwischen dem Sicherheitsbedürfnis und der Selbstbestimmung der Kinder. Denn: Das Sicherheitsbedürfnis ist bei den Kindern im Heim ausgeprägt, weil sie meistens in Situationen gelebt haben, die ihnen keine richtige Struktur und Sicherheit boten. Entsprechend brauchen sie viel Vorhersehbarkeit und dürfen lernen, zu vertrauen und Unsicherheiten auszuhalten. Rituale und klare Tagesabläufe sind deshalb wichtig. Das Recht auf Privatsphäre und das Recht auf Mitbestimmung werden berücksichtigt, indem die Kinder beispielsweise ihre Zimmer mitgestalten dürfen und niemand ins Zimmer platzt, ohne anzuklopfen. Gleichzeitig dürfen die Mitarbeitenden die Türen nie ganz schliessen, wenn sie mit einem Kind allein sind, um es vor sexueller Ausbeutung zu schützen. Am Wochenende können die Kinder beim Menu und beim Kochen mitreden und mitmachen.

Stärkung der Elternbeziehung

Ein grosses Thema ist es, die Beziehung zu den Eltern zu stärken, denn ein Kinderheim ist ein Zuhause auf Zeit. So werden auch die Eltern einbezogen und beispielsweise mit der Marte-Meo-Methode geschult – diese legt den Fokus auf die Stärken und nicht auf die Schwächen, und zwar beim Kind, bei den Eltern und den Mitarbeitenden. Die Kinderrechte fliessen täglich in alle Handlungen mit ein, wie Stöckli ausführt, aber häufig werden sie nicht direkt ausgesprochen, im Vordergrund stehe meistens das Wort «Kindeswohl». Und wie thematisieren die Mitarbeitenden die Kinderrechte zusammen mit den Kindern? «Bei den Bébés achten wir genau auf die Mimik und das Schreien, kleineren Kindern bringen wir bei, dass ihnen niemand weh tun darf und dass sie Stopp sagen dürfen, wenn sie sich unwohl fühlen. Dabei lernen die kleineren Kinder viel von den Älteren», sagt die Gruppenleiterin.

«Der Alltag ist ein ständiges Ausbalancieren zwischen dem Sicherheitsbedürfnis und der Selbstbestimmung der Kinder.» Corinne Stöckli, Gruppenleiterin im Kinderheim Titlisblick

Wo sieht Corinne Stöckli Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Kinderrechten? Dazu gibt sie zwei Beispiele: Dürfen die Mitarbeitenden ein Kind beim Arzt festhalten, wenn es Angst vor der Spritze hat? Manchmal müssen dann die Eltern oder der Beistand eingeschaltet werden, oder der Arzt trifft einen Entscheid, je nach Dringlichkeit. Eine andere Schwierigkeit besteht bei Grossfamilien. Eigentlich wird dafür gesorgt, dass Geschwister zusammenbleiben können, deshalb dürfen auch Kinder über sieben Jahre im Kinderheim bleiben. Aber wenn die Anzahl der Kinder einer Familie zu gross und der Altersabstand zu weit ist, wird das zur Herausforderung. Manchmal geraten die Kinderrechte auch in Widerspruch zueinander, wie Corinne Stöckli erläutert. Wenn beispielsweise die Eltern den Kindern beim Besuch viele Süssigkeiten vor dem Mittagessen mitbringen. Dann stehen das Recht des Kindes auf gesunde Ernährung und das Recht auf eine gute Beziehung mit den Eltern im Widerstreit. Da helfen ein respektvoller Umgang und ein freundlicher Hinweis an die Eltern. Manchmal mache es aber keinen Sinn, darauf zu pochen.

Mehr Bewusstsein für die Kinderrechte

«Das Bewusstsein für die Rechte der Kinder ist heute bestimmt ausgeprägter als früher. Die Kinder werden stärker einbezogen, und ihnen wird mehr erklärt», sagt Corinne Stöckli. Die Individualität und die Stärken der Kinder würden besser gesehen, auch die Privatsphäre der Kinder werde stärker gewichtet als früher. Schwierig bleibe die ständige Gratwanderung zwischen den Rechten der Eltern und derjenigen der Kinder.

Die Wünsche der Gruppenleiterin für die Zukunft betreffen das gesellschaftliche und politische Bewusstsein: «Ich hoffe, dass die Kinder im Heim nicht mehr in der Opferrolle gesehen werden, dass sie nicht Stigmatisierung erfahren müssen.» Für schutzbedürftige Kinder sei es wichtig, einen sicheren Ort zu haben und vielfältige Entwicklungsmöglichkeiten zu erfahren. Corinne Stöckli ist es zudem ein Anliegen, dass die Institutionen dafür sorgen, dass es weniger Betreuungs- und Beziehungsabbrüche für die Kinder gibt. Etwa weil die Kinder wegen des Alters die Institution wechseln müssen. Ausserdem wünscht sie sich eine Stärkung der präventiven Angebote, damit Familien bei Überforderung schneller Hilfe erhalten.

Eine eigene Haltung entwickeln

Die Themen der Kinderrechte sind ein wesentlicher Bestandteil der Ausbildung von angehenden Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, wie Marc Freivogel, Dozent für Sozialpädagogik an der Höheren Fachschule Gesundheit und Soziales in Aarau, sagt. «Ich sehe hingegen noch Entwicklungspotenzial im konkreten Bezug auf die gesetzlichen Grundlagen der Kinderrechtskonvention der UNO», führt er aus. Bei Menschen mit Beeinträchtigungen beziehen sich die Studierenden in der Argumentation ganz selbstverständlich auf die UN-BRK, bei den Rechten der Kinder und Jugendlichen ist das noch nicht so oft der Fall. «Wenn die Kinderrechte explizit erwähnt werden, erhalten sie mehr Gewicht und können noch besser als Argument genutzt werden, um für die Anliegen von Kindern und Jugendlichen einzustehen», so Marc Freivogel. Bei der Auseinandersetzung mit Kinderrechten können aber auch Dilemmata auftreten – etwa weil sich Kinderrechte widersprechen. Zum Beispiel wenn die sozialpädagogische Fachkraft die Kinder und Jugendlichen bei der eigenständigen Mediennutzung unterstützen, gleichzeitig aber auch vor nicht altersgerechten Inhalten schützen soll. Um solche Dilemmata zu bearbeiten, arbeitet Marc Freivogel mit den Studierenden oft anhand von konkreten Beispielen aus der Praxis, die in Gruppen diskutiert werden. «Es gibt selten die eine richtige Lösung, sondern immer verschiedene Varianten – deshalb ist eine professionelle Haltung so entscheidend», sagt Freivogel. Diese Haltung orientiere sich am Kindesinteresse und begegne den Kindern und Jugendlichen auf Augenhöhe. Wichtig ist Marc Freivogel auch die selbstkritische Betrachtung des eigenen Handelns, das genaue Hinschauen und die Reflexion. In der Ausbildung verfügen Dozierende und Studierende über die Möglichkeit, das eigene Handeln ohne Handlungsdruck zu reflektieren und zu hinterfragen – in der Praxis fehlt dafür oft die Zeit, da braucht es eine schnelle Reaktion. Die professionelle Haltung kann jedoch nicht in einem einzigen Modul abgehandelt werden, deren Entwicklung bezieht sich auf die gesamte Ausbildung und darüber hinaus, wie Marc Freivogel sagt.

«Ich sehe die Aufgabe der sozialpädagogischen Ausbildung entsprechend nicht im Eintrichtern von Wissen, sondern in der Schaffung von Erfahrungsräumen, die zur Handlung befähigen; oder kürzer zusammengefasst: zuhören, diskutieren, aushandeln», so Marc Freivogel. Dies kann in der Gruppe in der Schule oder im Team am Arbeitsort geschehen. Seit ein paar Wochen kann auch eine künstliche Intelligenz, ein Chatbot, als ergänzender Diskussionspartner genutzt werden. Möglich macht dies «kidlex», eine umfangreiche Online-Plattform mit viel Wissenswertem rund um Kinderrechte, die von YOUVITA erarbeitet wurde (mehr dazu im Kasten). Kidlex bietet Zugang zu vielen Hilfsmitteln und kann eine erste Anlaufstelle bei verschiedenen Fragen rund um die Kinderrechte sein. Dadurch unterstützt diese Plattform die pädagogischen Fachkräfte bei der Entscheidungsfindung und bei der Umsetzung der Kinderrechte.

Online-Plattform kidlex

YOUVITA lancierte mit kidlex eine auf Kinderrechte spezialisierte Online-Plattform, die Fachpersonen in der ausserfamiliären und ausserschulischen Kinder- und Jugendbetreuung mit theoretischen Grundlagen und praxisbezogenen Hilfsmitteln unterstützt. Ein Chatbot geht auf individuelle Fragestellungen ein. Er übernimmt die Rolle eines Gesprächs- und Reflexionspartners und hilft beim Abwägen von verschiedenen Vorgehensweisen und Lösungsmöglichkeiten. Zudem vermittelt er gezielte Informationen und Hilfsmittel, die zu den jeweils individuellen Fragestellungen und Herausforderungen passen. Kinderrechte sind in der Schweiz gesetzlich gut verankert, ihre Umsetzung ist jedoch anspruchsvoll, auch im professionellen Betreuungskontext.

kidlex.ch


Foto: Kinderheim Titlisblick