Zahngesundheit für Kinder mit Behinderung

22.03.2023 Rahel Jakovina

Die Zahngesundheit von Kindern mit Behinderung wird vernachlässigt. Bisher fehlten spezifische Informationen und ­Hilfsmittel für diese Kinder, ihre Eltern und Betreuungspersonen und zahnärztliche Fachpersonen. Neu bietet die Plattform «ZaZa» zielgruppenspezifische Unterstützung an.

«Patient mit Behinderung, 30, verliert wegen Paradontitis auf Grund mangelnder Zahnreinigung all seine Zähne.» Was sich liest wie eine Nachricht aus früheren Zeiten, ist noch heute kein Einzelfall. Menschen mit Behinderung sind auch aktuell von folgenschwerer Vernachlässigung der Zahngesundheit bedroht. Das gilt besonders für Kinder mit Behinderung. Während Kinder im Regelschulbetrieb gut mit Prophylaxemassnahmen versorgt sind, werden Kinder mit Behinderung oft nicht im gleichen Mass und in gleicher Regelmässigkeit berücksichtigt. Dazu kommt, dass die Mund- und Zahnpflege Eltern und Betreuungspersonen von Kindern mit Behinderung vor besondere Herausforderungen stellt.

Verzögerte Behandlungen

Cornelia Filippi ist Kinderzahnärztin und Leiterin der Abteilung Prophylaxe in der Klinik für allgemeine Kinder- und Jugendzahnmedizin des Universitären Zentrums für Zahnmedizin in Basel. Sie sagt: «Kinder mit Behinderung haben öfter Karies und Entzündungen im Mundraum, können ihr Unwohlsein oder ihre Schmerzen aber teilweise nicht verbal ausdrücken. Das führt zu verzögerten Behandlungen, und ihre zahnmedizinischen Beschwerden können sich gravierend auf andere Organe und ihre Allgemeingesundheit auswirken.»

Der Bedarf für Zahnarztbesuche ist bei Kindern mit Behinderung höher und in der Regel für alle Beteiligten mit grossem Stress und zeitlichem Aufwand verbunden. Der Stress und die zahnmedizinische Unterversorgung von Kindern mit Behinderungen hängen von einem Mangel an spezialisiertem Know-how bei allen Beteiligten ab. Recherchen und eine Umfrage, die im Auftrag von YOUVITA bei zahnärztlichen Fachpersonen und Betreuungspersonen durchgeführt wurde, zeigen: Es gibt kaum Hilfsmittel, die auf Kinder mit Behinderung abgestimmt sind. Behandelnde, Eltern und Betreuungspersonen werden unzureichend unterstützt. Das führt unter anderem dazu, dass einige Zahnarztpraxen Kinder mit Behinderung nicht als Patientin oder Patient aufnehmen.

Recht auf Gleichberechtigung

Kinder mit Behinderung haben allerdings das Recht auf einen gleichberechtigten Zugang zu den Gesundheitsdiensten. Die Qualität der Versorgung muss derjenigen anderer Menschen entsprechen. Das schliesst mit ein, dass ihre Bedürfnisse berücksichtigt werden, ihre Autonomie gewahrt wird und Behandlungen nur nach Aufklärung und im Einvernehmen mit den Patientinnen und Patienten durchgeführt werden. Voraussetzung dafür ist, dass Kinder mit Behinderung Zusammenhänge und Abläufe für sie verständlich vermittelt bekommen, ihre Kommunikationsmöglichkeiten berücksichtigt werden und ihren Anliegen Gehör geschenkt wird. Betreuungspersonen und zahnärztliche Fachpersonen sehen deutlichen Handlungsbedarf in der Umsetzung dieser von der UN-Behindertenrechtskonvention vorgesehenen Rechte.

Die Umfrage von YOUVITA macht deutlich: 50 bis 70 Prozent der Kinder mit Behinderung sind bei der Mund- und Zahnhygiene sowie bei Zahnarztbesuchen auf Unterstützung angewiesen. Zahngesundheit entsteht darum im Miteinander zwischen Kind, Eltern und/oder Betreuungspersonen und behandelnden Fachpersonen. Auf geeignete Weise muss das Wissen von Kindern mit Behinderung zu Mund, Zähnen, Prophylaxe sowie zu Abläufen in Zahnarztpraxen und nicht zuletzt zu ihren Rechten gestärkt werden. Behandelnde Fachpersonen müssen Abläufe auf die Bedürfnisse ihrer jungen Patientinnen und Patienten ausrichten, sich und die Betreuungspersonen spezifisch auf die Behandlung vorbereiten und spezielle Ressourcen (z. B. räumliche technische, personelle) zur Verfügung haben.

Besonders wichtig ist die Rolle der Eltern oder Betreuungspersonen, das betont auch Cornelia Filippi: «Staatliche Prophylaxemassnahmen greifen heute erst ab dem Schuleintritt. Wichtig für die Zahngesundheit ist aber die Zahnhygiene ab frühester Kindheit. In den ersten zwei Lebensjahren entwickeln sich Gewohnheiten – auch bei Menschen mit Behinderung –, und diese gilt es im Anschluss aufrechtzuerhalten.»

Eltern und Betreuungspersonen brauchen für diese Aufgabe geeignete Unterstützung. Sie müssen nicht nur Bescheid wissen über die Bedeutung der Prophylaxe, sondern auch Tipps, Tricks und Angebote kennen, die die Situation von Kindern mit Behinderung berücksichtigen. Cornelia Filippi sagt: «Kinder orientieren sich an ihren Begleitpersonen. Deren Grundhaltung wird entscheidend übertragen. Es ist wichtig, dass die Begleitpersonen selbst erwarten, dass ihnen in der Zahnarztpraxis nette und kompetente Menschen begegnen werden, dass das Kind mit Behinderung sich getrauen wird, den Mund zu öffnen, dass die Erfahrung eine angenehme sein wird. Dann ist auch im Kind die Überzeugung spürbar: Es wird gut, und ich kann das. Das hilft ungemein.»

In der Vorbereitung und beim Zahnarztbesuch ist deshalb eine sorgfältige verbale und nonverbale Kommunikation entscheidend. Positive Suggestionen und das Vermeiden angstbesetzter Wörter wirken unterstützend.

Die Zähne wahrnehmen und gern haben

Die neue webbasierte Plattform «ZaZa» nimmt diese Anliegen auf. Hier lernen Kinder die Figur Zaza kennen, mit der sie sich schnell identifizieren können. Zaza hilft ihnen, die Zähne wahrzunehmen und sie gerne zu haben. Der Wunsch, sich gut um sie zu kümmern, wird gestärkt, und die Kinder lernen die Zahnhygiene sowie zahnärztliche Personen und Prozesse als wertvolle Hilfen kennen. «ZaZa» wurde speziell entwickelt für die Bedürfnisse von Kindern mit Behinderungen. Die Sprache ist einfach und das Erzähltempo entschleunigt. In Zukunft wird die Plattform zudem Elemente der unterstützen Kommunikation aufgreifen.

Mit «ZaZa» haben es sich Fachpersonen des Universitären Zentrums für Zahnmedizin, die Kommunikationsprofis von neko interactive und YOUVITA zur gemeinsamen Aufgabe gemacht, allen Kindern mit Behinderung, deren Eltern und Betreuungspersonen sowie zahnärztlichen Fachpersonen beizustehen. Finanziell unterstützt wird das Anliegen vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, der Christoph Merian Stiftung, der Stiftung Walter Fuchs, der Stiftung für das behinderte Kind und der Kantonszahnärztin des Kantons Basel-Stadt.

Dank dieser Unterstützung ist «ZaZa» eine fachlich fundierte und zielgruppenspezifisch aufbereitete Wissensbasis, die öffentlich und kostenlos zugänglich ist. Es stehen 14 Videos, eine Wissensplattform mit über 80 Fragen und Antworten und unzählige unterstützende Hilfsmittel wie Bastelanleitungen, Lese- und Malbögen und interaktive Spiele für Kinder und Checklisten, Fragebögen und Wegleitungen für behandelnde Fachpersonen zur Verfügung. Hilfsmittel, Abläufe und Begriffe sind sorgfältig aufeinander abgestimmt. Sie werden zu Hause und in der Praxis eingesetzt und geben als verbindendes Element Sicherheit und Vertrauen.

Cornelia Filippi, die Mitglied der «ZaZa»-Projektleitung ist, beschreibt ihre Vision: «Durch den Zugang zum nötigen Wissen finden Mund- und Zahnhygiene künftig auch bei Kindern mit Behinderungen ab Durchbruch der ersten Zähne regelmässig statt. Gut vorbereitet, werden Besuche in der Zahnarztpraxis positiv erlebt. Kinder mit Behinderung sollen in allen Zahnarztpraxen genauso willkommen sein wie Menschen ohne Behinderung. Ihre Zahngesundheit soll weder von Zahnärzten, Eltern noch anderen Fachpersonen vernachlässigt werden. Dabei hilft ‘Zaza’. Brauchen wird es aber auch den politischen Willen dafür, die Betreuung und Behandlung von Kindern mit Behinderung mit mehr Ressourcen wie Behandlungs- und Betreuungszeit, spezieller Vorbereitung und spezifischem Wissen auszustatten.»

www.zaza.care


Rahel Jakovina ist Fachmitarbeiterin des Branchenverbands YOUVITA.


Foto: Plattform «ZaZa»