ARCHITEKTUR | Vielfältige Dienstleistungen – eine Architektur

22.03.2023 Anne-Marie Nicole

Die Seniorenresidenz Les Hirondelles in Clarens VD verfügt über eine klassische Pflegeabteilung, begleitet zudem älter werdende Menschen mit psychischen Problem aller Art sowie Betagte mit demenziellen Erkrankungen und ermöglicht einen Kurzaufenthalt oder eine Tagesbetreuung: Diese vielfältigen Aufgaben stellten die Planer der 2019 eröffneten Institution vor eine Herausforderung.

Les Hirondelles – Die Schwalben. Was für ein passender Name. Die Seniorenresidenz befindet sich in Clarens, ganz in der Nähe des Genfersees und von Montreux. Entstanden ist sie aus der ehemaligen Fabrik Béard, einem industriellen Aushängeschild der Region, das vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zu seiner Schliessung 2007 Silberwaren und andere Artikel aus rostfreiem Stahl für die Hotellerie herstellte.

Im Jahr 2013 wurde die Fondation Claire Magnin gebeten, das Gebäude zu übernehmen und zu einem Dienstleistungszentrum für Menschen im Alter umzunutzen. Unter dem Vordach des Gebäudes ist jedoch seit je die grösste Schwalbenkolonie der Region zu Hause. Also passte die Bauherrin in Absprache mit den Tierschützerinnen und -schützern den Zeitplan für den Umbau der ehemaligen Fabrik so an, dass er die Brutzeit der Schwalben zwischen März und September berücksichtigte. Zudem verpflichtete sie sich dazu, rund 100 Nester anzubringen. Seit der Eröffnung der Residenz im Jahr 2019 herrscht zwischen den Schwalben und den älteren Menschen ein harmonisches Miteinander.

Sich änderende Bedürfnisse berücksichtigen

Der Umbau und die Umnutzung des Gebäudes waren jedoch nicht ganz einfach. «Eine Fabrik und eine Pflegeinstitution sind in ihrer Funktionsweise gänzlich verschieden», betont Stéphane Cottet, Architekt des Projekts, Leiter des Büros Dias-Cottet Architectes und seit 2020 auch Mitglied des Stiftungsrats der Fondation Claire Magnin. Obwohl es seiner Meinung nach einfacher und kostengünstiger ist, ein bestehendes Gebäude abzureissen und neu zu bauen, meisterte er die Herausforderung durch die Verbindung von Geschichte und Modernität mit «Respekt und Demut». Er erklärt: «Wir hatten nicht völlig freie Hand. Wir mussten die Geschichte und die industrielle Architektur der Fabrik berücksichtigen, ohne die Struktur zu verändern.»

«Wir pflegen in der Seniorenresidenz die gleiche Betreuungsphilosophie wie in allen anderen Einrichtungen der ­Stiftung: Lebensqualität ermöglichen und Sinn stiften.»

Durch die Sanierung des Industriegebäudes erreichte die Fondation ­Claire Magnin das Ziel, mehrere verschiedene Dienstleistungen unter einem Dach zu vereinen und damit den sich verändernden Bedürfnissen der begleiteten Personen – insgesamt über 100 Menschen im Alter – gerecht zu werden. Das ursprünglich dreistöckige Gebäude in U-Form blieb bestehen und wurde um zwei zusätzliche, modern anmutende Geschosse aufgestockt. Diese schliessen das U und schaffen einen offenen Innenhof. Als Anspielung auf die ehemalige Funktion des Gebäudes sind die Fassaden des Anbaus mit Leichtmetallplatten verkleidet. Die Umnutzung erforderte eine intensive Zusammenarbeit mit den Ingenieurinnen und Ingenieuren. So waren Abklärungen zu verschiedenen Bausystemen vorzunehmen, um das bestehende, statisch nicht sehr tragfähige Skelett nicht zu schwächen.

Der Haupteingang der Seniorenresidenz Les Hirondelles führt in einen grossen, lichtdurchfluteten Raum mit einem begrünten Lichthof in der Mitte. Im vorderen Teil befinden sich der Empfang und die Cafeteria, hinten zwei Speisesäle für die Bewohnerinnen und Bewohner sowie ein Res­taurant, das auch den Angehörigen offensteht. Der einem Dorfplatz ähnelnde Bereich ist von mehreren Räumlichkeiten umgeben, wo eigentlich Boutiquen, Arztpraxen und andere Dienstleistende hätten Platz finden sollen. Doch die Corona-Pandemie bremste den kreativen Elan. Von der Anfangsidee geblieben sind eine Arztpraxis und ein Coiffeursalon. In den anderen Räumen befinden sich derzeit die Pflegedienstleitung, das Büro der Hotellerieverantwortlichen sowie die Animation. Das ursprüngliche Projekt ist allerdings nicht aufgehoben, sondern lediglich verschoben.

Materialien und Farben sollen Wohnlichkeit vermitteln

Wie in anderen sozialmedizinischen Einrichtungen war die Auswahl der Materialien zur Unterscheidung zwischen privaten, halbprivaten und öffentlichen Bereichen ein wichtiges Anliegen. «Ich habe mir viele Heime angeschaut, um die Materialwahl zu verstehen und architektonische Lösungen zu finden, die Wohnlichkeit vermitteln», erzählt Stéphane Cottet. Da man in diesem Gebäude leicht die Orientierung verliert, kommen verschiedene Farben zum Einsatz: Das Blau auf der Nordseite erinnert an den Winter, das Gelb auf der Südseite an den Sommer, das Grün auf der Ostseite an den Frühling und das Violett auf der Westseite steht für den Herbst. Die Stoffe in den verschiedenen Wohnräumen der oberen Geschosse entsprechen bewusst der Farbe des jeweiligen Bereichs. Manchmal steht jedoch plötzlich ein grüner Sessel neben einem violetten Sofa oder ein gelber Stuhl erhellt das Blau des Winters. Konzepte sind eben lebendig und wandelbar.

Die Pflege- und Betreuungsabteilungen sind auf die oberen Geschosse verteilt und nach Aufgaben unterteilt. So belegt die Geriatrie mit 24 Betten die ehemaligen Werkstätten im ersten Stock und verfügt über einen Innenhof. Die auf der alten Struktur und gemäss der Geometrie der ursprünglichen Säulen errichteten Zimmer sind hier grös­ser als in den kantonalen Richtlinien für Neubauten vorgeschrieben. «Wir dachten, die Bewohnerinnen und Bewohner auf der Geriatrie würden am meisten von diesen grosszügigeren privaten Bereichen profitieren», erklärt Monique Cachin, stellvertretende Direktorin der Fondation Claire Magnin und Leiterin des sozialpädagogischen Bereichs.
Im zweiten Stock befindet sich die Psychiatrie für älter werdende Menschen mit 22 Plätzen. Sie richtet sich an Personen mit unterschiedlichen psychiatrischen Krankheitsbildern und bietet strukturbildende und individuelle Aktivitäten. Die psychogeriatrische Abteilung für Menschen mit demenziellen Erkrankungen im dritten Stock beherbergt 35 Personen und verfügt über einen durchgehenden Bewegungsraum. Im zurückgesetzten obersten Stock mit Terrasse finden rund zehn Betagte Platz, die für einen Kurzaufenthalt oder eine Tagesbetreuung in die Residenz kommen. Hier beruhen die Alltagsaktivitäten auf der Montessori-Methode und folgen dem Normalitätsprinzip.

«Wir pflegen die gleiche Betreuungsphilosophie wie in allen anderen Einrichtungen der Stiftung: Leben geben und Sinn stiften», so Anne Parelle, Generaldirektorin der Fondation Claire Magnin. «Diese Philosophie wird je nach Dienstleistung einfach etwas anders umgesetzt.» Alle Mitarbeitenden leisten einen Beitrag zur Lebensqualität der Menschen im Alter. «Auf allen Abteilungen respektiert das Betreuungskonzept die Entscheidungen und Wünsche der Bewohnenden den ganzen Tag über», ­ergänzt Monique Cachin. So können die betreuten Personen zum Beispiel frei entscheiden, ob sie die Mahlzeiten in ihrem Zimmer, im Speisesaal des jeweiligen Geschosses oder im Erdgeschoss zu sich nehmen möchten. «Das Gebäude bietet diese Flexibilität, auch wenn es die Arbeit der Pflegeteams erschwert», erklärt die stellvertretende Direktorin. «Pflegende legen längere Wege zurück, um die verschiedenen Orte gemäss den individuellen Wünschen zu erreichen.»

Das vielfältige Angebot ist auch für Fachkräfte attraktiv

Trotz ihrer Vereinigung unter einem Dach sind die verschiedenen Leistungen nicht völlig durchlässig. Dies wäre aufgrund der Besonderheiten und spezifischen Bedürfnisse der Bewohnenden laut Anne Parelle auch nicht realistisch. «Zudem verfolgen die Kurz- und die Langzeitpflege nicht die gleichen Ansätze und erfordern auch nicht die gleichen Netzwerkpartnerinnen und -partner.» Die nach Geschossen gegliederten Aufgaben werden von je einem spezialisierten Team wahrgenommen, das insbesondere in den Bereichen Psychogeriatrie und Psychiatrie über spezifische Kompetenzen verfügt. «Das Ziel des Dienstleistungszentrums besteht in erster Linie darin, Menschen im Alter auf ihrem gesamten Lebensweg ohne Unterbruch und ihren individuellen Bedürfnissen entsprechend zu betreuen.»

Ein weiterer Vorteil dieses Konzepts liegt in seiner Attraktivität für die Fachkräfte. «Das vielfältige Angebot und die Möglichkeit eines Bereichswechsels fördern die langfristige berufliche Weiterentwicklung», sagt Anne Parelle. «Wir haben auch gemeinsame Weiterbildungen – zum Beispiel in der Alters­psychiatrie – oder themenübergreifende Supervisionen eingeführt.»

Seit der Eröffnung der Seniorenresidenz vor vier Jahren haben sich die Fachteams kennengelernt, sie respektieren einander, verstehen die Tätigkeiten der anderen und unterstützen sich gegenseitig. Vielleicht mehr als anderswo müssen die Fachkräfte hier besonders offen, neugierig, flexibel und polyvalent sein – auch über ihre berufsspezifischen Kompetenzen hinaus.

Diese ersten Jahre erlaubten den Mitarbeitenden und Bewohnenden, sich mit den Räumlichkeiten vertraut zu machen, sich anzupassen, die Organisation anzugleichen und einen Rhythmus zu finden «Jetzt, wo die Pandemie unter Kontrolle ist, können wir die Gemeinschaftsräume wieder vermehrt nutzen und Kontakte pflegen», freut sich Anne Parelle.
 


Foto: Fondation Claire Magnin