Partizipation statt sturer Regeln

26.02.2022 Claudia Weiss,
Teilen

In den Sozialpädagogischen Wohn­gruppen Speerblick in Uznach SG zählen Neue Autorität, Partizipation, Erlebnispädagogik und ­Elterncoachings: Diese ­sollen ­Eltern und Kindern helfen, ihre Handlungs­fähigkeit  wieder zu erlangen, erklärt ­Institutionsleiterin Petra Derungs.

In der Freizeit spielen die Kinder der Sozialpädiatrischen Wohngruppen Speerblick gerne rund ums Haus. Erlebnisse in der Natur verleihen ihnen Selbstsicherheit. Fröhliches Rufen hallt durch die ­Gänge der beiden sozialpädagogischen Wohngruppen Speerblick in Uznach SG, dem vorübergehenden Daheim für 14 Kinder und Jugendliche, die zuhause eine Gefährdungs- oder Krisensituation erleben. An diesem Mittwochnachmittag lockt die Sonne, eine Gruppe von vier Jugendlichen macht sich bereit für einen gemeinsamen Schlittelausflug zur nahegelegenen Alp Egg. «Soziales Lernen im Alltag» lautet das Motto des Speerblicks, dazu gehören auch gemeinsame Erlebnisse in der Natur.

«Partizipation hilft langfristig viel mehr als sture Regeln.»

Seit Petra Derungs vor drei Jahren die Leitung übernommen hat, hat in den Wohngruppen eine neue Haltung Einzug gehalten: Statt sturen Struk­turen ist ein pädagogischer Grundsatz angesagt, der auf Respekt, Partizipation und Transparenz basiert und nach Ressourcen sucht. Die Kinder sollen selbst erfahren, was ihnen guttut: «Partizipation hilft langfristig viel mehr als sture Regeln», sagt Derungs. Individuell angepasste Lösungen,

Neue Autorität und Erlebnispädagogik sollen den Kindern helfen, sich persönlich weiterzuentwickeln. Gleichzeitig erhalten ihre Eltern monatliche Coachings, in denen sie lernen, wie sie in ihrer Rolle als Eltern wieder Handlungsfähigkeit erlangen können.

«Die Kinder und Jugendlichen sollen hier ein sicheres und gemütliches Zuhause erleben und sich wertgeschätzt fühlen.»

Petra Derungs führt durch die Wohnungen im dritten und vierten Stock. Die hohen Räume sind frisch renoviert und modern dekoriert. Sie nickt: «Die Kinder und Jugendlichen sollen hier ein sicheres und gemütliches Zuhause erleben und sich wertgeschätzt fühlen.»

Diese Haltung zeigt sich schon bei der Einrichtung, denn einer der wichtigen Grundsätze der Neuen Autorität lautet: «Du bist uns wichtig, wir sehen dich.» Derungs zeigt auf das Schuhgestell beim Wohnungseingang – ein sicht­bares Beispiel dafür, wie die Kinder und Jugendlichen im Alltag mit einbezogen werden: «Ständig kam es zu Diskussionen, weil die Kinder mit schmutzigen Schuhen in die Wohnung rannten, statt sie unten auszuziehen.» Nach einer Sitzung gab das Team deshalb die Frage in die Runde: Was würde den Kindern und Jugendlichen helfen, die Schuhordnung besser einzuhalten? Spontan kam die Idee, auf dem Stockwerk ein Schuhgestell einzurichten, und der Vorschlag wurde zügig umgesetzt. Natürlich sei das Thema Ordnung damit nicht vom Tisch, die Institutionsleiterin schmunzelt, immer noch bleiben Schuhe liegen. «Aber das Beispiel zeigt, wie wir Partizipation leben.»

Anstrengender, aber nachhaltig

Das habe eine ebenso spürbare Wirkung wie das Prinzip «Wiedergutmachung statt Machtkampf»: Wer Regeln nicht eingehalten hat, wird nicht einfach bestraft. Vielmehr wird in einem Gespräch geklärt, was gelaufen ist. Oft finden die Gespräche erst statt, wenn sich die Gemüter beruhigt haben. Dann können die Kinder und Jugendlichen sich mit ihrem Verhalten auseinandersetzen und ihren Fehler durch eine sinnvolle Tat wieder gutmachen.

Am besten funktioniert die neue Haltung des Speerblicks, wenn sich die Eltern an Bord holen lassen.

Gleichzeitig erfahren sie, dass die Beziehung darunter nicht leidet, dass die Haltung «wir sind für dich da» auch trägt, wenn es schwierig wird. «Der Wiedergutmachungsprozess ist oft wesentlich anstrengender als ein Straf­system», sagt Petra Derungs. «Für alle.» Sowohl für die Kinder und Jugendlichen wie auch für das Team bedeutet das immer wieder Dranbleiben anstatt Regeln durchzuziehen und Sanktionen abzuhaken. Trotzdem sei es der bessere Weg: «Die Wirkung ist viel nachhaltiger.»

Am besten funktioniert die neue Haltung des Speerblicks, wenn sich die Eltern an Bord holen lassen. Die Mutter des elfjährigen Leon* beispielsweise hatte anfangs enorm Mühe mit dem Gedanken, ihren Sohn in ein Kinderheim zu geben, umso mehr, weil Leon zuvor in einem Internat untergebracht worden war, in dem sie die ganze Woche durch ausser zwei Telefongesprächen keinen Kontakt halten durfte. So erfuhr Tamara Schawinski* nie, wie es mit ihrem Sohn in der Schule und in der Wohngruppe überhaupt lief. «Eine sehr belastende Zeit für uns beide», sagt sie am Telefon.

«Ich darf auch unter der Woche zu Besuch gehen, spontan dort Znacht essen oder meinem Sohn abends noch etwas vorlesen und ihn zu Bett bringen.»

Dennoch liess sie sich nach Gesprächen und Besuchen im Speerblick auf einen Versuch ein, der Ansatz überzeugte sie. Mittlerweile sind drei Monate vergangen, und sie hat erleichtert festgestellt, dass ihr Gefühl sie nicht getrogen hat: «Ich darf auch unter der Woche zu Besuch gehen, spontan dort Znacht essen oder meinem Sohn abends noch etwas vorlesen und ihn zu Bett bringen – ja, ich werde sogar ermutigt, mich aktiv einzubringen und am Alltag teilzunehmen.» Sie fühlt sich als Mutter ernst genommen, bekommt Tipps für einen entspannten Umgang mit ihrem Sohn und wagt sich inzwischen, ihm an den gemeinsamen Wochenenden klare Grenzen zu setzen. Ansonsten darf sie die Familienzeit geniessen, ohne stets unzählige Regeln im Hinterkopf zu haben: «Ich habe gelernt, wie viel es bringt, wenn wir zusammen hinausgehen und gemeinsame Erlebnisse geniessen.»    

Genau das ist die Idee der Erlebnispädagogik, ebenfalls ein wichtiges Element im Speerblick. Alex Leu, Erlebnispädagoge und pädagogischer Leiter, lockt vor allem die älteren Jugendlichen gerne mal ein bisschen aus der Komfortzone: «Bei Abenteuern in der Natur sollen sie lernen, aufeinander einzugehen und etwas zu wagen, um etwas zu erreichen, und dabei doch immer spüren, dass sie an einem sicheren Ort sind.»

Vertrauen auf allen Seiten

Auf der anderen Seite ist es im Alltag für Sozialpädagogin Stephanie Steiner, Leons Bezugsperson, selbstverständlich, dass sie zwischendurch der Mutter berichtet, wenn etwas nicht so gut läuft – aber auch, wenn Leon Erfolge erlebt hat. «Es ist wichtig, dass alle auf dem gleichen Informationsstand sind», sagt sie, und sie findet es schön zu merken, dass auf allen Seiten Vertrauen da ist.

«So ziehen alle am selben Strick.»

Auch Leons Mutter erlebt die Zusammenarbeit als überraschend positiv: «So fühle ich mich nicht vergessen, das ist für mich schön.» Sie freut sich, dass ihr Sohn auch Freunde in den Speerblick mitbringen darf und diese sogar bei ihm übernachten dürfen. Auf die Frage, ob er das cool findet, nickt Leon. «Ja, ja, es ist okay.» Am liebsten würde er zuhause bei seiner Mama wohnen, aber er hat sich arrangiert. An diesem Nachmittag hatte er sich für das einmal im Monat stattfindende «Backen mit der Institutionsleiterin» gemeldet. Eigentlich wollte er Schokocookies backen, aber jetzt fragt er, ob er stattdessen bei diesem schönen Wetter zum Schlitteln mitgehen dürfe. Petra Derungs nickt, das ist eine gute Idee. Sie ist froh, es läuft sehr gut mit Leon und seiner Mutter. Eine dermassen kooperative Zusammenarbeit sei die ideale Form, sagt sie: «So ziehen alle am selben Strick.»

Manuela Camus, die ausser Leon noch ein anderes Kind im Speerblick als Beiständin betreut, ist geradezu begeistert von diesem Ansatz. Sie sieht den direkten Vergleich mit anderen Institutionen, in denen die Zusammenarbeit mit Eltern und Kindern nach eher traditionellem Muster gehandhabt wird.

Schnell spürbare Kooperation

Sie ist positiv überrascht vom frappanten Unterschied: «Innert kurzer Zeit gelang hier eine spürbare Kooperation mit der Mutter, obwohl diese anfangs einem stationären Aufenthalt sehr ablehnend gegenüberstand», sagt sie. Dadurch nimmt Manuela Camus auch bei Leon eine merkliche Entspannung wahr. Für sie steht fest: «Im Speerblick läuft vieles deutlich einfacher. Das ist das Modell der Zukunft.»

«Es ist wichtig, dass Eltern in ihrer Rolle gestärkt werden.»

Der Ansatz trägt sogar, wenn Eltern sich aufgrund ihrer Situation oder ­früherer Erfahrungen weniger gut auf eine Kooperation einlassen können. In diesen Fällen sei vor allem die Stärkung der Kinder wichtig, sagt Sozialpäda­gogin Annina de Palatis, Sozialpädagogin HF in Ausbildung: Sie erklärt ­ihren Bezugskindern ­Nathalie*, 10, und Philipp*, 8, immer wieder, es sei nicht ihre Schuld, dass sie im Speerblick sind. Und auch nicht, dass die Eltern manchmal zu verabredeten Terminen nicht auftauchen.

Die Geschwister sind inzwischen ein halbes Jahr dort, und als Bezugsperson der beiden Kinder versucht sie immer wieder, die Eltern mit einzubeziehen, informiert sie, wenn etwas Schwieriges, aber auch wenn Gutes vorgefallen ist, und insistiert, wenn diese nichts hören wollen: «Es ist wichtig, dass Eltern in ihrer Rolle gestärkt werden.»

Das System ins Boot holen

Das Dranbleiben hat sich gelohnt, inzwischen haben die Eltern gespürt, dass sie respektiert werden, und die Mutter hat sich sogar bereit erklärt, künftig an einem Coaching teilzunehmen. In den Coachings reflektiert die jeweilige Bezugsperson mit den Eltern, wie sie mit ihrem Kind umgehen können und was ihr Verhalten für das Kind bedeutet. Alle hoffen, dass die Situation auch für Nathalie und Philipp bald einfacher wird und die Kinder nicht mehr entscheiden müssen, ob ihre Loyalität den Eltern oder dem Betreuungsteam gehören soll, sondern dass alle dasselbe Ziel haben.

Bis das gut angelaufen ist, holt das Team des Speerblicks andere Personen aus dem System zu sich ins Boot: Trudi Roth* beispielsweise, die grossmütterliche Nachbarin der beiden Kinder. «Sie waren zwei Jahre lang so oft ganze Nachmittage lang bei mir, jetzt möchte ich unbedingt wissen, wie es ihnen im Speerblick ergeht», sagt sie. Sie und ihr Mann holen die Kinder für Veloausflüge ab oder bräteln mit ihnen am See Würstchen, damit sie unbeschwerte Momente erleben. «Die beiden sollen merken, dass jemand nur für sie da ist, dass sie uns wichtig sind.»

Kurt Zimmermann, Lehrer an der Primarschule Schänis, gehört ebenfalls zum erweiterten System der Kinder und wird regelmässig informiert. Das sei ausgesprochen hilfreich, findet er: «Wenn ich weiss, dass in der Wohngruppe etwas vorgefallen ist, kann ich viel besser einordnen, warum ein Kind tags darauf in der Schule auffällt oder keine Zeit hatte, die Hausaufgaben zu erledigen.»

Und auch Beiständin Patricia Widmer spürt einen deut­lichen Unterschied gegenüber ähnlich gelagerten Familiensystemen, die in traditionell geführten Institutionen betreut werden: «Man merkt sehr gut die Beständigkeit, mit der das Speerblick-Team am Familiensystem dranbleibt.» Sie hofft, dass diese beharrlichen Angebote eines Tages doch noch zum Tragen kommen.

«Wir sind zusammengewachsen, Absprachen laufen viel einfacher.»

Trotz Herausforderungen hat sich die neue Haltung bereits bestens bewährt, findet auch Petra Derungs. Von einem Tag auf den anderen lasse sich ein solcher Wechsel allerdings nicht vollziehen: «Diese Haltung muss wachsen.» Vom vorherigen Team sind heute nur noch die Sozialpädagoginnen Agnes Wieland und Melanie Brunner dabei, und sie sind von den neuen Ansätzen überzeugt:: «Seit wir individuell auf die Ressourcen der Kinder eingehen und sie mit einbeziehen, sind sie im Alltag viel kooperativer geworden», sagt Melanie Brunner. Auch für das Team sei diese Zusammenarbeit sehr positiv: «Wir sind zusammengewachsen, Absprachen laufen viel einfacher.»

Ständig dranbleiben

Die anderen zehn Sozialpädagoginnen und -pädagogen kamen nach dem Leitungswechsel zum Team, und gemeinsam machten alle begeistert bei der Grundausbildung zur Neuen Autorität mit. Vier liessen sich inzwischen zu spezialisierten Elterncoaches weiterbilden. Alle erhalten regelmässige Weiterbildungen, Supervision und Intervision. «Das ist wichtig», sagt Petra Derungs: «Mit einer einmaligen Einführung ist es noch lange nicht getan, da muss man ständig dranbleiben.»

Durch die Gänge schallen Rufe und Trampeln: Die Schlittelgruppe stürmt zum Minibus hinaus, ihre Begleiterin Christiane Pietsch wartet schon. Sobald alle verstaut und angeschnallt sind, geht es los. In zwei, drei Stunden werden die vier Buben zum Nacht­essen zurück sein, müde, vielleicht etwas übermütig oder überreizt, aber vollgetankt mit frischer Luft, Sonne und gemeinsamen Gruppenerlebnissen. Und sie werden das Gefühl haben, dass es Menschen gibt, denen es wichtig ist, wie es ihnen geht, und die ihnen Gestaltungsfreiraum lassen.Das ist es, was im Speerblick zählt.


Erlebnispädagogik in den Sozialpädagogischen Wohngruppen Speerblick

Reportage bei Speerblick - Podcast (mp3, 9.4 MB)

 


Die Lagerwoche im Naturpark Beverin im Graubünden war für alle streng - aber auch wertvoll.



* Namen geändert

Fotos: Donovan Wyrsch und Speerblick
Musik: Nora Gerber (www.noragerber.com)