GEWALT | Gewalt im Alter: Praktische Hilfe für Betroffene

08.02.2023 Elisabeth Seifert

Ein nationales Kompetenzzentrum berät Gewaltbetroffene und Angehörige, aber auch Nachbarn, Freiwillige sowie Fachpersonen bei Gewalt und Misshandlungen alter Menschen. Neben der ­spezialisierten Anlaufstelle engagiert sich das Zentrum in der Sensibilisierung und Information der Öffentlichkeit sowie von Organisationen der Langzeitpflege.

Die Zahlen lassen aufhorchen: Jahr für Jahr sind hierzulande 300'000 bis 500'000 Menschen im Alter von 60 Jahren und darüber von irgendeiner Form von Gewalt betroffen, von psychischer Gewalt, von physischem oder finanziellem Machtmissbrauch. Ein grosses Problem sind auch Vernachlässigungen unterschiedlicher Art. Oft sind die betagten Menschen dabei von einer Kombination mehrerer Gewaltformen betroffen.

Neben der Tatsache als solche gibt zu denken, dass solche Zahlen, die notabene blossen Schätzungen entsprechen, erst seit wenigen Jahren ins öffentliche Bewusstsein dringen. ­Genannt wurden sie erstmals in Bericht des Bundesrates «Gewalt im Alter verhindern», der im Jahr 2020 als Antwort auf ein parlamentarisches Postulat publiziert worden ist.

«Information und Sensibilisierung zur Gewalt im Alter ist dringend notwendig»

Nur ein verschwindend kleiner Teil all dieser Fälle wird bekannt. Dies zeigt etwa die Zahl der Meldungen bei der nationalen Anlaufstelle Alter ohne Gewalt, die ältere Menschen und ihr Umfeld bei der Klärung, Vermittlung und Schlichtung in Konfliktsituationen und in Misshandlungssituationen unterstützt. Die im Jahr 2019 lancierte nationale Anlaufstelle mit der Telefonnummer 0848 00 13 13 wird jährlich in gut 200 Fällen von vermuteter Misshandlung kontaktiert.

«Information und Sensibilisierung zur Gewalt im Alter ist dringend notwendig», sagt denn auch Ruth Mettler Ernst, Geschäftsleiterin der Anlaufstelle, die auf Anfang 2022 zum «ersten Nationalen Kompetenzzentrum Alter ohne Gewalt» erweitert worden ist. Auch bei der Misshandlung von Kindern habe es lange gedauert, bis die Öffentlichkeit davon Kenntnis genommen hat. Die Sensibilisierung für die Gewaltthematik im Alter sei dabei umso wichtiger, da der ­Anteil der älteren Menschen in der Gesellschaft immer grösser wird und insbesondere hochbetagte Menschen sehr verletzlich sind.

Während die breite Öffentlichkeit erst langsam auf das Thema aufmerksam wird, sind die drei selbstständigen ­Organisationen Alter Ego (Westschweiz), Pro Senectute Ticino e Moesano (Südschweiz) und die Unabhängige Beschwerdestelle für das Alter UBA (Deutschschweiz) bereits seit über 20 Jahren in diesem Bereich tätig. Mit der Gründung des nationalen Kompetenzzentrums haben sich diese Organisationen ein gemeinsames Dach gegeben, um ihre Aufklärungsarbeit zur Verhinderung von Gewalt im Alter voranzutreiben. Unterstützt wird das Zentrum vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) im Rahmen des Programms zur Unterstützung von Projekten im Bereich der häuslichen Gewalt.

Sich frühzeitig melden

«Unsere Mission ist es, der Gewalt durch präventive Arbeit zu begegnen», betont Ruth Mettler Ernst. Sie leitet neben dem nationalen Kompetenzzentrum seit vielen Jahren die Unabhängige Beschwerdestelle für das Alter. Im Blick hat das Kompetenzzentrum sowohl Gewalt im häuslichen als auch im institutionellen Bereich. «80 Prozent der Fälle, die wir bearbeiten, betreffen den häuslichen Bereich, 20 Prozent Pflegesituationen im institutionellen Bereich.» Ein Verhältnis, das über die Jahre gleich geblieben sei, so Mettler Ernst.

«Konflikte können nur dann nachhaltig gelöst werden, wenn alle ­Involvierten mitarbeiten.»

In den eigenen vier Wänden sei dabei oft die Überforderung betreuender Angehöriger die Ursache von Konflikten bis hin zu Misshandlungen. «Angehörige sind sich oft zu wenig bewusst, was Betreuungsarbeit und die Pflege bedeuten, und schlittern so, ohne dies zu wollen, in eine sie belastende Situationen hinein.»

Im institutionellen Bereich ortet Mettler die Ursachen unter anderem im fehlenden Wissen zu den verschiedenen Formen von Gewalt. Zudem können Stresssituationen und Personalmangel dazu führen, dass es insbesondere zu psychischer Gewalt oder auch Vernachlässigungen kommt. «Im institutionellen Bereich werden wir zudem auch mit Fällen konfrontiert, bei denen die Pflegenden von den Gepflegten in irgendeiner Form attackiert werden.»

Eine zentrales Aufgabenfeld des Kompetenzzentrums besteht darin, Gewaltbetroffene, Angehörige, Nachbarn und Freiwillige sowie Fachpersonen in einer konkreten Situation persönlich zu beraten und zu unterstützen. «Damit wir möglichst frühzeitig nach Lösungen suchen können, ist es wichtig, dass wir auch möglichst früh Meldung erhalten», hält die Expertin fest. Wer sich über die Telefonnummer 0848 00 13 13 bei der nationalen Anlaufstelle meldet, wird dabei automatisch zu einer der drei sprachregional tätigen Organisationen tragiert.

Psychische Gewalt und Vernachlässigung

Ob im Tessin, in der Westschweiz oder in der Deutschschweiz: Fachpersonen zum Thema Gewalt, die entweder ehrenamtlich tätig oder festangestellt sind, nehmen die Anrufe entgegen, leisten eine erste Beratung und geben die Fälle dann weiter, an Fachorganisationen oder wiederum an ehrenamtliche, pensionierte Fachpersonen aus unterschiedlichen Bereichen – von Medizin über Recht bis hin zu ehemaligen Heimleitenden.

Bei der UBA sind gemäss dem Vieraugenprinzip sowie dem Grundsatz interprofessioneller Fallführung immer zwei Fachleute involviert. «Ein Fall kann recht aufwendig sein», weiss Ruth Mettler Ernst. Die Fachleute nehmen erneut mit der meldenden Person Kontakt auf und erarbeiten Lösungsmöglichkeiten. «Dabei geschieht alles vertraulich, und sofern keine akute Gefährdung vorliegt, werden keine Entscheide über die Köpfe der Meldenden hinweg getroffen.» Allein für die UBA, die zusätzlich zu Gewaltthemen auch in Konflikten unterschiedlichster Art berät und unterstützt, sind 70 freiwillige Fachpersonen tätig.

«Wie bereits in den Vorjahren sind Vernachläs­sigungen und psychische Gewalt die beiden grossen Themen.»

Die mit dem Thema Gewalt im Alter befassten Fachpersonen der drei Organisationen UBA, Alter Ego und Pro Senectute Ticino e Moesano kommen regelmässig zu Weiterbildungen und anonymisierten Fallbesprechungen zusammen. Obwohl die nationale Statistik für das Jahr 2022 noch nicht abgeschlossen ist, zeichnen sich über 200 Fälle ab, dies entspricht in etwa den Zahlen der letzten Jahre. Gut drei Viertel der von Gewalt Betroffenen sind weiblich. Im Durchschnitt sind die Betroffenen gut 80 Jahre alt. Und, so Mettler: «Wie bereits in den Vorjahren sind Vernachläs­sigungen und psychische Gewalt die beiden grossen Themen.» Die Meldungen erfolgen insbesondere durch die Gewaltbetroffenen selbst und von Angehörigen.

Um gute, nachhaltige Lösungen zu finden, werde auch immer das Umfeld einbezogen, betont Mettler. Das nationale Kompetenzzentrum arbeite zu diesem Zweck mit einer Reihe von Partnern im Bereich der Altershilfe zusammen. «Konflikte können aber nur dann nachhaltig gelöst werden, wenn alle Involvierten mitarbeiten.» Dies gelinge oft, aber längst nicht immer. «Es braucht vonseiten der ehrenamtlich tätigen Fachpersonen ein gewisses Mass an Frustrations­toleranz. Man muss aushalten können, dass es manchmal ­keine Lösung gibt.»

Das Kompetenzzentrum bekannter machen

Zusätzlich zur persönlichen Unterstützung in einer spezifischen Situation engagiert sich das nationale Kompetenzzentrum in der Information und Sensibilisierung der Öffentlichkeit sowie des Fachpersonals in Organisationen der Langzeitpflege. Dazu gehören Weiterbildungen für Mitarbeitende in Pflegeheimen und der Spitex, aber etwa auch für freiwillig Mitarbeitende, z. B. von Fahrdiensten. «Die zurzeit oft nur in einer Sprachregion und zu bestimmten Schwerpunkten durchgeführten Weiterbildungen sollen zusammengeführt und national nutzbar gemacht werden», erläutert Mettler ein wichtiges Ziel. Ein weiteres – langfristiges – Ziel besteht darin, die von verschiedenen Organisationen einschliesslich der Polizei erstellten Statistiken zu einer einzigen nationalen Statistik zur Gewalt im Alter zusammenzuführen.

Einen Sensibilisierungsschub erhofft sich Ruth Mettler von einer im kommenden Frühling durch die von der Schweizerischen Kriminalprävention lancierten Kampagne gegen Gewalt im Alter, an der sich gerade auch das nationale Kompetenzzentrum prominent beteiligen wird. «Unser Netzwerk dürfte damit bei Betroffenen und Angehörigen noch bekannter werden.»

Eine weitere Aufgabe des Kompetenzzentrums besteht darin, das über viele Jahre innerhalb der drei sprachregionalen Organisationen von UBA, Alter Ego sowie der Pro Senectute Ticino e Moesano erarbeitete Fachwissen zusammenzutragen, zu systematisieren – und anderen Organisationen, einschliesslich der Wissenschaft, zur Verfügung zu stellen. Bereits beteiligt hat sich das Kompetenzzentrum an einer Studie der Fachhochschule Luzern, deren Ergebnisse in den eingangs erwähnten Bericht des Bundesrates eingeflossen sind.


Nationales Kompetenzzentrum Alter ohne Gewalt

Hotline (­Normaltarif): 0848 00 13 13.
E-Mail: info@alterohnegewalt.ch.
Website: www.alterohnegewalt.ch

 


Foto: Marco Zenzoni